Ein Rückblick auf das dritte Jahr dieses Newsletters ist schnell erledigt. Nur zwei Ausgaben habe ich 2023 verschickt: Tortue #9 tanzte den Tanz der schweren Zeichen und suchte nach dem Politischen in der Popmusik – nicht in den Songtexten, sondern in der Musik selbst. Für Tortue #10 habe ich Matthias Hartwig von Ahabs Linkes Bein über das Debütalbum „Drohgebärde“, Seefahrer*innen-Romantik und die Revolution ausgefragt.
Das bedeutet, dass ich auch 2023 wieder kaum über aktuelle Musik geschrieben habe. Deshalb folgen hier zehn Alben und EPs, die mich durch das Jahr begleitet haben. Wie jedes Jahr gilt: Die Reihenfolge entspricht keiner Rangordnung, außerdem ist es nur eine kleine Auswahl meiner liebsten Musik des Jahres.
Da sich dieses Jahr viele Texte angestaut haben, unterteile ich den Rückblick erstmals in zwei Teile.
Noch ein Hinweis in eigener Sache: Wenn dir Tortue gefällt und du Menschen kennst, bei denen das ähnlich sein könnte, freue ich mich sehr, wenn du den Newsletter teilst und weiterempfiehlst. Vielen Dank und viel Spaß mit den Musikempfehlungen!
Lonnie Holley – „Oh Me Oh My“ (Jagjaguwar)
In Lonnie Holleys Welt ist es ein tröstlicher Gedanke, dass wir nie ins Bodenlose fallen, weil am Ende immer der harte Boden wartet. Deshalb arbeitet der 73-Jährige aus Birmingham, Alabama als visueller Künstler mit dem liegengelassenen Müll anderer Menschen. Und deshalb bleibt seine Musik trotz aller Spiritualität immer auf dem Boden der Tatsachen. Wenn die Musik auf „Oh Me Oh My“ doch abhebt, liegt das an den Gastsänger*innen Camae Ayewa (Moor Mother), Michael Stipe (R.E.M.) oder Justin Vernon (Bon Iver), die leidenschaftlich beschwören, wehklagen und falsettieren.
Holleys Stimme hört man sein bewegtes Leben zwar an, doch er durchlebt seine Kindheit geprägt von Armut und Rassismus, den Horror der „Alabama Industrial School for Negro Children“ in den elf Songs von „Oh Me Oh My“ nicht, sondern protokolliert diese Traumata in fast nüchternem Sprechgesang. Diesen unterlegt Jacknife Lee mal nur mit ein paar Synthesizer-Flächen und Kalimba-Sounds, in den rhythmischen und opulenteren Songs wie „Earth Will Be There“, „Mount Meigs“ oder „Better Get That Crop In Soon“ mit Band inklusive Bläsern und Streichern.
Sarah Mary Chadwick – „Messages To God“ (Kill Rock Stars)
Vor zwei Jahren gab mir Sarah Mary Chadwicks wunderschöne Ballade „Full Mood“ die Hoffnung, dass doch alles gut werden könnte. „Messages To God“ erfüllt diese Hoffnung 2023 zunächst nicht. Gleich der erste Song handelt vom Suizidversuch eine*r Freund*in, der zweite vom Begräbnis des Vaters. Und die Singer/Songwriterin aus Melbourne führt immer noch eine Liste mit Dingen, die falsch laufen: 1. Menschen sterben. 2. Du bist depressiv. („Drinkin‘ On A Tuesday“)
Doch auf ihrem achten Soloalbum singt Sarah Mary Chadwick häufiger als zuvor von Schönheit und Hoffnung – und muss diese Momente nicht mit einer bitterbösen Punchline sofort wieder in den Dreck ziehen. Vor allem lässt sie musikalische Schönheit zu: Hank Clifton-Williamsons Flöte, Ben Edgars Slide-Gitarre oder Charlotte Jackes Cello treiben die Balladen wie „Don’t Tell Me I’m A Good Friend“ oder „Only Bad Memories Last“ in hymnische Höhen, „Drinkin‘ On A Tuesday“ tänzelt gutgelaunt durch einen feuchtfröhlichen Abend.
Trotzdem gilt für „Messages To God“, was ich 2021 über den Vorgänger „Me and Ennui Are Friends, Baby“ geschrieben habe: Wer Sarah Mary Chadwick hört, hat am Ende ein paar Schrammen und blaue Flecken mehr. Wenn die Wut aus ihr herausbricht, sie ihr Klavier wie ein Redner*innenpult benutzt, um ihre desillusionierenden Erkenntnisse mit wütenden Schlägen zu betonen, geht man besser in Deckung: „When it hurts too much I’ll just run in with arms swinging/ If you’re in the way it’s your fault if you get punched“ („Shitty Town“).
Patrick Shiroishi – „I Was Too Young To Hear Silence“ (American Dreams)
Auf Patrick Shiroishis letztem Soloalbum „Hidemi“ (hier geht’s zu meiner Rezension) winden sich die verschiedenen Saxofonstimmen in immer engeren Kreisen in- und umeinander, von der Gravitation in ein kompaktes Soundgebilde gepresst. „I Was Too Young To Hear Silence“ strebt zwei Jahre später in die entgegengesetzte Richtung, sendet wie ein Sonar-System Schallimpulse in alle Richtungen, um den weitläufigen Raum zu erkunden. Der Musiker aus Los Angeles hat sein drittes Soloalbum in einer Nacht in einer Tiefgarage in Monterey Park, Kalifornien aufgenommen – mit zwei Mikrofonen und einem Zoom-Recorder.
„I Was Too Young To Hear Silence“ ist ein Zwiegespräch zwischen Shiroishis Saxofon und der leeren Garage, in das sich in „Rain, After Running Away“ kurz ein Glockenspiel einmischt. Wie die meisten guten Gespräche braucht „I Was Too Young To Hear Silence“ ein paar Minuten, um in Schwung zu kommen. In den ersten Tracks „Stand Still Like A Hummingbird“ und „I Almost Said“ schickt Patrick Shiroishi spitze Kiekser, einzelne Töne oder kurze Triller in den Raum und verfolgt ihren Weg durch das Betonlabyrinth, das sie verstärkt, vervielfältigt und schließlich verschluckt.
Diese Leerstellen werden im Verlauf des Albums immer seltener, auf das suchende Abtasten folgen immer komplexere Arrangements, bis „I Was Too Young To Hear Silence“ schließlich mit dem wilden Free-Jazz-Ausbruch „Hunting The Eye Of His Own Storm“ und dem poetisch-schönen „If Only Heaven Would Give Me Another Ten Years“ seinen Höhepunkt findet.
Yara Asmar – „Synth Waltzes And Accordion Laments“ (Hive Mind)
In der ersten Jahreshälfte reiste Yara Asmar für einen zweimonatigen Residenzaufenthalt in den Schwarzwald. Dort baute die Künstlerin aus Beirut Puppen, nahm Field Recordings im Wald auf und präsentierte auf dem „Vogelklang Soundcamp“ unter anderem ihre Komposition „The Cut-Throat Finch Preludes“ – eine Hommage an ihren Großvater, der vor dem libanesischen Bürgerkrieg Vögel gezüchtet und auf Vierspur-Rekorder aufgenommen hat.
Mit im Gepäck hatte Yara Asmar das alte Akkordeon ihrer verstorbenen Großmutter, das zufällig nur wenige Autominuten entfernt in Trossingen hergestellt und am 21. Oktober 1955 zusammen mit sieben weiteren Hohner-Akkordeons in den Libanon versendet wurde (ein Foto des alten Lagerbuchs der Hohner-Manufaktur im Booklet der Kassette dokumentiert diese kuriose Entdeckung). Für eine Künstlerin, die Gegenstände und deren Geräusche für ihre Kompositionen nutzt, um daraus sehr persönliche Tracks zu erschaffen, ist es natürlich ein Glücksfall, wenn ein Objekt wie die Hohner Marchesa plötzlich mit so viel(en) Geschichte(n) und Erinnerung aufgeladen wird.
Deshalb steht – der Albumtitel verrät es – das Akkordeon im Zentrum vieler Kompositionen auf „Synth Waltzes And Accordion Laments“, abwechselnd oder gemeinsam mit elegischen Synthesizer-Klängen. Im Vergleich zum Vorgänger „Home Recordings 2018-2021“, über den ich im letzten Jahresrückblick geschrieben habe, hat Yara Asmar ihre Soundpalette reduziert. Emotional bespielen die zehn Kompositionen von „Synth Waltzes And Accordion Laments“ aber erneut eine große Klaviatur – von Trauer, weil die Hände der Großmutter dem Akkordeon keine Töne mehr entlocken, bis Hoffnung, weil der Balkon des Großvaters sich als grüne Oase gegen das Grau des Betons wehrt.
Aesop Rock – „Integrated Tech Solutions“ (Rhymesayers)
Keine große Überraschung, dass Aesop Rock ein loses Konzeptalbum voller Technikkritik veröffentlicht. Der New Yorker Rapper versprüht schon immer eher Maschinenstürmer-Vibes, dafür hätte er für die Aufnahmen seines Albums „The Impossible Kid“ (2016) gar nicht in eine einsame Hütte im Wald ziehen müssen (Ted Kaczynski lässt grüßen).
Doch auch wenn er gleich zu Beginn von „Integrated Tech Solutions“ den aufgeblasenen Business-Sprech von Crypto- und Silicon-Valley-Bros parodiert, ist er nicht wirklich interessiert an deren Welt – das zeigt schon seine Arbeitsdefinition von Technik auf „Mindful Solutionism“: Erst war da das Rad, dann das Feuer, der Rest ist verschwommen. Und er ist auch weniger interessiert an dystopischen Zukunftsfantasien, in denen die Technik uns unterjocht (für solche Dystopien gab es ja das Def-Jux-Label).
Sein Misstrauen gilt eher denen, die die Technik entwickeln und besitzen. Und sein Interesse und seine Sympathie haben alle anderen, die sich irgendwie durchwurschteln – egal ob Mensch („On Failure“, „Vititus“) oder Taube („Pigeonometry“). Im besten Storytelling-Song des Albums zeigt sich dann, dass Menschen keine hochentwickelte Technik brauchen, um andere Menschen schlecht zu behandeln („Aggressive Steven“). Passend zur Zukunftsskepsis der Texte kommen auch die größtenteils selbstproduzierten Instrumentals (das letzte Album produzierte Blockhead) eher nostalgisch daher – mit allerlei retrofuturistischen Synthies und gescratchten Hooks.
Carmen Jaci – „Happy Child“ (Noumenal Loom)
2023 war wieder kein gutes Jahr für fröhliche Musik. Und für das innere Kind, das die Wunder der Welt mit großen Augen und offenem Mund bestaunt. Trotzdem adressiert Carmen Jaci mit „Happy Child“ dieses innere Kind, erschafft mit den acht Kompositionen eine quietschbunte Fantasiewelt. Die Musik der Franko-Kanadierin, die derzeit in der niederländischen Stadt Leiden lebt, ist kindisch-naiv, aber nie simpel.
Die dichten Collagen vereinen die musikalischen Einflüsse aus Jacis Kindheit: die klassische und New-Age-Musik der Eltern auf der einen, die Soundtracks von „Super Mario World“ und „Donkey Kong“ auf der anderen Seite. „Happy Child“ ist die Antwort auf die Frage, wie diese Soundtracks geklungen hätten, wenn in den Game Boy oder NES nicht nur ein paar Bits, sondern ein ganzes Kammerorchester gepasst hätten.
Wie bei dem Kinderspiel, bei dem jede*r abwechselnd ein Wort sagt, bis (hoffentlich) ein sinnvoller Satz entsteht, verteilt Carmen Jaci jeden Ton einer Melodie und jeden Beat des Rhythmus wild über zahllose Instrumente und ihre Stimme. Ein einziges Mal auf „Happy Child“ komponiert sie ein wenig konventioneller und erschafft mit „Oh Ah Eh Ih Ah Oh“ einen der größten, mit Sicherheit aber den bescheuertsten Hit des Jahres.
Perkins & Federwisch – „… Something Known As Music“ (superpolar Taïps)
Nirgendwo wurde ich 2023 schöner angeflunkert als im Beipackzettel zu „… Something Known As Music“. Der Drang ist groß, die gesamte Biografie von Perkins & Federwisch hier zu zitieren, aus Platzgründen nur ein paar Highlights: Uli Federwisch ist Geschäftsführer einer Firma, die Gewichtsbegrenzungsschilder für Aufzüge und Brücken herstellt. Chip Perkins hofft, nach seinem unbezahlten Remote-Praktikum beim Kassettenlabel Strategic Tape Reserve einen Job als Wissenschaftler zu ergattern, der mit Schlangengift experimentiert. Gemeinsam machen Perkins & Federwisch Songs, die sich an den formalen Strukturen der Euskirchener Avant-Schlager-Szene orientieren.
Zumindest in dem letzten Punkt steckt ein Fünkchen Wahrheit. Die sieben Balladen von „… Something Known As Music“ changieren wirklich zwischen Schlager- und Avantgarde-Musik: Beim Hören kann man sich gut vorstellen, wie sich Perkins & Federwisch in lachsfarbenen Anzügen auf der Bühne in melodramatische Posen werfen, während sie schmalzige Zeilen singen wie: „I couldn’t rest/ In Bukarest/ Until I saw your face“ („Karlsbad“). Die musikalische Begleitung dazu klingt allerdings so, wie man sie von einem experimentellen Kassettenlabel wie superpolar Taïps erwartet: Synthie-Improvisationen, Störgeräusche und andere Seltsamkeiten. Wenn die Musik doch etwas zugänglicher wird, in der zweiten Hälfte von „This Is The Best Month Of Your Life“ der Beat einsetzt, zerfließt davor der Gesang in seltsamen Sound-Schlieren.
Sofia Kourtesis – „Madres“ (Ninja Tune)
Sofia Kourtesis sieht ihre Tracks, bevor wir sie hören. Erst sei da eine visuelle Idee, dann ein Gefühl, und erst dann eine Melodie, beschreibt die Produzentin ihren Schreibprozess im Gespräch mit Pitchfork und hat dafür auch eine Erklärung: Eigentlich sei sie eine gescheiterte Filmemacherin. Mit 17 kam die heute 38-Jährige aus Lima nach Deutschland, um an der Filmakademie Baden-Württemberg zu studieren, landete stattdessen über Hamburg in Berlin.
Weder das Grau der deutschen Hauptstadt noch die schwierigen Umstände – während der Arbeit an „Madres“ erkrankte Kourtesis‘ Mutter an Krebs – können den sonnigen, lateinamerikanischen House der Peruanerin eintrüben. Sofia Kourtesis widmet ihr Debütalbum ihrer Mutter und den Track „Vajkoczy“ dem gleichnamigen Neurochirurgen der Berliner Charité, der mit einer riskanten Operation das Leben ihrer Mutter verlängerte. Doch die euphorischste Hymne ist der heilenden Kraft gewidmet, die auch dann zur Stelle ist, wenn kein*e Chirurg*in der Welt helfen kann: „How Music Makes You Feel Better“.
Tara Clerkin Trio – „On The Turning Ground“ (World Of Echo)
Subtraktion ist die wichtigste der vier Grundrechenarten in der Welt des Tara Clerkin Trios. Das lässt sich schon an seiner Entstehungsgeschichte und Diskografie zeigen: Das Trio aus Bristol blieb übrig, als fünf Mitglieder die Tara Clerkin Band verließen. Seit seinem selbstbetitelten Debüt (2020) hat das Trio mit „In Spring“ (2021) und „On The Turning Ground“ in diesem Jahr nur noch kürzere EPs veröffentlicht.
Auch musikalisch agieren Tara Clerkin, Sunny-Joe Paradiso und Patrick Benjamin wie Steinmetz*innen, die bei den fünf Kompositionen alle überflüssigen Stimmen und Sounds wegklöppeln, bis nur noch der wesentliche Kern steht. Dieser setzt sich aber aus so heterogenen Elementen zusammen, dass die 26 Minuten der EP voller Überraschungen stecken. Der instrumentale Opener „Brigstow“ beginnt als Jazz-Ballade, steigert sich zu einem archaischen Trauermarsch und endet im Dub-Echo. Im folgenden „World In Delay“ aktualisiert das Trio den Trip-Hop seiner Heimatstadt und schmuggelt einen Breakbeat und in der zweiten Hälfte gar einen wobbeligen Dubstep-Bass in die zerbrechliche Folk-Ballade „The Turning Ground“.
Wilco – „Cousin“ (dBpm)
Da sind sie wieder, die Störgeräusche und disharmonischen Gitarren, die von rechts und links am eigentlich hymnischen Finale von „Infinite Surprise“ sägen, bis nur noch statisches Knistern übrigbleibt, das nach einem weit entfernten Feuerwerk klingt. Doch dieser Opener führt in die Irre, genau wie Jeff Tweedys Ankündigung, Wilcos 13. Studioalbum sei experimenteller Art Pop. „Cousin“ ist kein zweites „Yankee Hotel Foxtrot“, auch wenn die walisische Musikerin Cate Le Bon als Produzentin der Band aus Chicago ähnlich gut tut wie damals Jim O’Rourke (Sonic Youth).
Die Experimente und Seltsamkeiten auf den folgenden neun Songs von „Cousin“ sind subtiler, im 30. Bandjahr haben es sich Wilco im Midtempo und im sanften Folkrock gemütlich gemacht. Innerhalb der Band scheint es einen Wettbewerb zu geben, wer am dezentesten und songdienlichsten spielen kann, während Jeff Tweedy immer weniger Worte braucht, um die Dynamiken einer Beziehung („Levee“, „Evicted“) oder die Nachrichtenmüdigkeit ob der täglichen Katastrophen („Ten Dead“) auszuloten. Ich brauche kein zweites „Yankee Hotel Foxtrot“, solange Wilco weiterhin so simpel-schöne Songs veröffentlichen wie hier.
Das war die elfte Ausgabe von Tortue, die vorherigen Ausgaben kannst Du im Archiv des Newsletters nachlesen. Vielen Dank für Deine Zeit. Wenn Dir meine Gedanken zu Musik, Popkultur und dem ganzen Drumherum gefallen, abonniere den Newsletter und erzähle Deinen Freund*innen davon. Außerdem freue ich mich über Kommentare und Rückmeldungen – per Mail, auf Mastodon, Twitter, Threads, Bluesky oder Instagram.
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