„Man muss nicht am Meer wohnen, um die Lyrics zu fühlen.“
Tortue #10 mit Matthias Hartwig von Ahabs Linkes Bein
Als ich Matthias Hartwig kennengelernt habe, handelten seine Songs noch ausschließlich vom lädierten Leben – und vom Saufen, wie er im Interview sagt. Dann hat er irgendwann die Sprache, das Thema und die Seite gewechselt – vom Wal zum Waljäger. 2012 veröffentlichte er mit Exploding Whales ein Album mit zehn englischsprachigen Blues-, Folk- und Jazz-Songs, elf Jahre später folgt am 1. September mit „Drohgebärde“ das Debütalbum der Nachfolgeband Ahabs Linkes Bein.
Begleitet wird er darauf immer noch von seinem Bruder Daniel Hartwig an Gitarren und Gesang, ergänzt durch Joshua Werner am Kontrabass und Cullen Corley am Schlagzeug. Musikalisch sind Ahabs Linkes Bein fest auf dem nordamerikanischen Kontinent mit seiner Blues-, Rock- und Folk-Tradition verankert, textlich zieht es sie auf „Drohgebärde“ immer wieder auf hohe See.
Obwohl ich mit Matthias zwei Mal an der Nordsee im Urlaub war, haben wir nie ausführlich über seine Faszination für dieses Thema gesprochen. Und obwohl ich sein Homestudio häufig als Schlafplatz missbrauche, wenn ich in Berlin bin, sprechen wir viel zu selten über Musik. (Meistens streiten wir uns über Trap-HiHats oder meine (fehlende) Definition von Indierock.) Deshalb habe ich die anstehende Veröffentlichung von „Drohgebärde“ genutzt, um einen fiebrigen Matthias Hartwig an einem Freitagabend fast zwei Stunden mit Fragen zu löchern.
Die Illustrationen zu dieser Ausgabe stammen von Tobias Schrank (@tobiolyt).
Wenn du die Augen schließt und dir Captain Ahab vorstellst, fehlt dann das linke oder rechte Bein?
Matthias Hartwig: Das linke, natürlich.
Ich bin auch davon ausgegangen, dass ihr euch nach dem fehlenden Bein benannt habt, also die Leerstelle besingt. Im Internet wird aber behauptet, dass Herman Melville in „Moby Dick“ nie schreibt, welches Bein fehlt.
Matthias Hartwig: Das stimmt. Ich habe das ausführlich recherchiert, bevor ich mich für diesen Namen entschieden habe. Es wird nie beschrieben, aber für mich war immer klar, dass es um das fehlende Bein geht – die Leerstelle. Es klingt auch einfach besser als „Ahabs rechtes Bein“. Insofern bin ich ganz dankbar, dass Melville uns diesen Interpretationsspielraum gelassen hat.
Die Leerstelle oder die Verletzung als Namensgeberin passt auch zur Musik. Mir schwirrte beim Hören des Debütalbums die Überschrift „Songs aus dem lädierten Leben“ durch den Kopf. Gehst du da mit?
Matthias Hartwig: Auf jeden Fall, das steckt mit drin. Aber immerhin nicht mehr ausschließlich. Zur Zeit von Exploding Whales drehte sich alles um dieses Thema, jetzt ist es ein etwas weiteres Themenfeld geworden.
Warum überhaupt „Moby Dick“?
Matthias Hartwig: „Moby Dick“, oder zumindest die groben Pfeiler der Handlung von „Moby Dick“ sind vielen Leuten präsent, auch wenn sie das Buch nie gelesen haben. Man weiß, dass es Captain Ahab gibt und dass der einen weißen Wal jagt. Wenn der Bandname abgekürzt wird, sagen die meisten nur „Ahab“. Aber eigentlich ist das Identifikationsangebot und der Held der Geschichte der Wal, der am Ende die Leute frisst und in den Untergang treibt. Da ist es komisch, sich stattdessen auf den toxischen alten Mann zu beziehen, aber am Ende geht es ja immer um den. [lacht]
Was fasziniert dich an dieser Welt? Warum tauchen diese Bilder, Metaphern aus der Seefahrt und der maritimen Welt in deinen Lyrics auf?
Matthias Hartwig: Ich will mit meinen Texten nicht suggerieren, dass ich eine Seefahrer-Vergangenheit hätte oder am Meer großgeworden wäre. Ich komme zwar aus Norddeutschland und hatte später in Bremen viele Freund*innen, die Nautik studiert haben. Und wir waren als Familie früher oft an der Ostsee, überhaupt war ich viel und gerne am Meer.
Es ist für mich aber eine Metapher, ein Referenzraum, eine Projektionsfläche. Ein literarisches Vehikel, mit dem man bestimmte Emotionen und Sehnsüchte transportieren kann. Und in das man viel hineininterpretieren kann: Gewalt, Verlust, das passt da sehr gut hinein. Deswegen muss man auch nicht am Meer wohnen, um diese Lyrics zu fühlen. Du musst eben nicht Jahrzehnte auf einem Krabbenkutter gearbeitet haben, damit du zum Meer eine tiefe, fast schon kreatürliche Beziehung hast. Dass du aufs Meer schaust und denkst: Boah, das macht jetzt was mit mir. Man muss keinen Segelschein haben – weder um diese Texte gut zu finden noch um sie zu schreiben. Wir machen ja auch keine Seefahrerlieder, das fände ich auch wiederum langweilig.
Dann müssten wir jetzt eine Authentizitätsdebatte führen.
Matthias Hartwig: Lieber nicht.
Aber es stimmt, dass diese Faszination für das Meer sehr universell ist. Das wurde mir bei den Nachrichten rund um das U-Boot „Titan“ und die Mission zum „Titanic“-Wrack bewusst. Auf dem Höhepunkt der Berichterstattung bezogen sich die ersten vier oder fünf Meldungen der Startseite von Spiegel auf das Unglück. Woran liegt das deiner Meinung nach?
Matthias Hartwig: Klar fährt man ans Meer, um Urlaub zu machen und geile Fotos für Instagram. Aber am Ende ist es auch ein sehr dunkler, sehr tiefer, sehr unerforschter, sehr unerforschlicher und lebensfeindlicher Raum. Wenn du da zu tief runterfährst in deinem selbstgezimmerten U-Boot, kann der Druck schnell zu groß werden, und dann stirbst du, egal wie reich du bist.
Wenn man in Deutschland aufwächst, wird man entweder mit Seefahrer-Romantik oder Bergidylle indoktriniert. Aber das alleine erklärt noch nicht die Faszination. Das Meer ist letztlich wie der Weltraum, mit dem Unterschied, dass man da als Normalsterblicher wirklich hinkann. Es ist der fremde Planet mitten auf dem bekannten Planeten, zugleich unbekannt und vertraut, abstoßend und anziehend.
Es ist auch der Ort, wo man vom Menschen nicht zu bändigende Natur erleben kann. Das fühlt sich anders an, als irgendwo in Deutschland durch den Wald zu stapfen. Da steckt das romantische Bild der unberührten Natur drin, was natürlich längst nicht mehr stimmt, aber auch etwas Bedrohliches. Viele Umweltkatastrophen oder Unglücke – wie auch das der „Titan“ – haben mit dem Meer oder zumindest mit Wassermassen zu tun.
Natürlich seid ihr kein Shanty-Chor und ich will auch nicht den Eindruck erwecken, dass deine Lyrics nur von nautischen Themen handeln, aber du spielst immer wieder mit Bildern und Begriffen aus dieser Welt. Wie kam es dazu, dass dieses Thema zum Fixpunkt deiner Texte wurde?
Matthias Hartwig: Es ist ja nicht erst seit dieser Band ein Leitmotiv, mindestens bei Exploding Whales gab es das auch schon. Es ist ein Thema, an dem ich mich schon bestimmt 15 Jahre lang abarbeite. Das hat auf jeden Fall mit meiner Herkunft zu tun, andererseits wohne ich jetzt schon lange nicht mehr in Norddeutschland. Vielleicht kehre ich es in meinen Texten so nach außen, weil es doch ein Teil meiner Identität ist, der mir sehr wichtig ist, ohne dass ich jetzt wahnsinnig heimatverbunden wäre.
Wenn ich irgendein Gefühl habe, aber nicht einfach sagen will „Das ist das Gefühl“, dann komme ich oft auf Meeres-Analogien oder -Metaphern, mit denen ich es inhaltlich so ausdrücken kann, dass ich es künstlerisch interessant finde.
Früher, als es in meinen Songs noch mehr um das lädierte Leben ging, habe ich auch oft übers Saufen gesungen und habe darüber viel ausgedrückt. Vielleicht hat man manchmal einfach so ein Thema, an dem man sich immer wieder abarbeitet und über das man versucht, seine Gefühle auszudrücken. Aber das Meer ist zum Glück ein vielseitigeres Thema, als immer nur übers depressive Saufen zu singen.
Empfindest du es auch manchmal als Gratwanderung? Denn es ist ja ein Spiel mit Klischees, mit Bildern, die die Hörer*innen als ausgelutscht empfinden können?
Matthias Hartwig: Natürlich. Deshalb kommt es längst nicht in jedem Song vor. Und selbst die Songs, in denen solche Bilder vorkommen, handeln ja nicht von der Seefahrt. Es sind immer nur kurze Referenzen. Ich schreibe eh nicht narrativ, kein einziger Song spielt auf einem Schiff. Sogar Songs wie „Walgesang“, die das Thema prominent im Titel haben, nehmen höchstens in zwei bis vier Zeilen konkret darauf Bezug. Es geht einfach nur darum, lyrisch etwas auszudrücken, was die Leute emotional nachempfinden können. „Nach langen Jahren auf See nun bei dir angelangt“, ist doch schöner als: „Endlich haben wir uns gefunden.“ [lacht]
Es ist uns schon öfter passiert, dass uns Besucher*innen nach Konzerten Managementtipps gegeben haben, dass wir dieses Seefahrt-Thema noch viel stärker betonen sollten. „Tragt doch Matrosenkostüme auf der Bühne!“ „Tourt doch mal durch Ostseebäder.“ Solche Sachen. Da muss ich dann schon sagen: Sorry, aber das ist der falsche Weg, das ist too much.
Ich schreibe auch immer wieder Songs ohne Meeresbezug, um mir selbst zu beweisen, dass das auch geht.
Deshalb der „Wüstenprediger“.
Matthias Hartwig: Ja. [lacht]
Etwas allgemeiner zu den Texten: Du bist nicht der klassische Storyteller, deine Lyrics sind freier, assoziativer. Wenn du selbst Musik hörst, sind es dann auch eher diese assoziativen Songwriter, die dich interessieren, oder die Storyteller*innen?
Matthias Hartwig: Ich bewundere narratives Songwriting und höre das auch gerne. Ich finde das toll und auch beneidenswert. Das ist ein Skill, den ich nicht habe und den ich jetzt auch nicht aktiv versuche auszubilden, weil ich gar nicht weiß, ob ich es könnte.
Richtig gute narrative Songwriter machen ja das Gleiche, was ich mit meinen Meeres-Metaphern erreichen will. Die wollen irgendwas sagen, sagen aber nicht einfach die Sache, sondern erzählen eine Geschichte, in der diese Sache transportiert wird. Das finde ich ganz, ganz toll. Zum Beispiel diese ganzen Tom-Waits-Lieder, dich ich alle gefeiert habe.
Es muss aber nicht so sein. Ich höre auch verquasten Lyrik-Quatsch gerne oder ausdrückliches Geschimpfe als Text.
Es ist mir in Interviews schon häufiger passiert, dass mir eher assoziativ schreibende Songwriter*innen erzählt haben, wie neidisch sie auf Storyteller*innen sind, und diese Storyteller*innen wiederum, wie neidisch sie darauf sind, mit nur wenigen Assoziationen ein Bild zu schaffen.
Matthias Hartwig: Neidisch würde ich nicht sagen, aber ich verstehe, wo das herkommt.
Wir haben letztes Jahr mit einem Künstler aus Erfurt eine Tour gemacht, der heißt Carnival Kid. Ich würde seine Musik so grob als Bruce-Springsteen-mäßigen Indierock umschreiben. Und der hat einen narrativen Song, der heißt „1996“, in dem beschreibt er, wie er 1996 mit einem Kumpel in seinem Heimatdorf Fahrrad fährt und es ist nicht viel los, aber sie kriegen auf die Schnauze, und irgendwie war es doch eine schöne Zeit. In einem kurzen Song so eine Geschichte unterzukriegen: „Es ist 1996/ Und du stehst vor meiner Tür.“ Großartig! Da könnte man schon neidisch werden…
Du verwendest ja nicht nur nautische und maritime Bilder, sondern spielst in den Texten auch gern mit Sprichwörtern und Redewendungen, zum Beispiel bei „Wüstenprediger“. An einigen Stellen hat mich das an Sven Regeners Texte erinnert. Ist es auch hier das Spiel mit Erwartungen und Klischees, das dich reizt?
Matthias Hartwig: Ich empfinde es als sehr große Befriedigung, wenn man hin und wieder was singt – oder auch sagt – und dabei denkt: Diese spezielle Kombination von Wörtern ist so vielleicht noch nicht gemacht worden. Das muss gar nicht gar nichts krass Originelles sein, da frage ich mich eh, ob es wirklich originelle Gedanken gibt. Aber wenn ich etwas Vertrautes, was schon 1.000-mal gesagt wurde, leicht umstelle, dann habe ich manchmal dieses Gefühl.
Ich bin ja nun vor vielen Jahren auf deutsche Sprache umgestiegen, dann schreibe ich auch noch so lyrisch, gebe mir mit technischen Details mühe wie Reimschemata, Rhythmen. Ich agiere sozusagen in einem klassischen Kontext. Auch deshalb finde ich es spannend, mit Vertrautem und beinahe Altertümlichem zu spielen und es so zu reframen, dass daraus etwas Neues erwächst. Wenn man in der Sprache schreibt, mit der man aufgewachsen ist, hat man in dieser Hinsicht ein ganz anderes Futter zu Verfügung, als es bei mir auf Englisch der Fall war.
Warum eigentlich der Wechsel zur deutschen Sprache? Bei der Vorgängerband Exploding Whales hast du ja noch Englisch gesungen und bei Ahabs Linkes Bein zumindest auf dem Song „Space Between The Raindrops“.
Matthias Hartwig: Zunächst wollte ich einfach schauen, ob ich es auch auf Deutsch kann. Ich habe damals auch auf Englisch gesungen, um eine gewisse Distanz zu den Inhalten zu schaffen. Also ich wollte nicht, dass sich die Leute, wenn sie zu unseren Konzerten kamen, mit den Texten beschäftigen mussten. Und ein wenig bin ich vor zehn Jahren aus Trotz zum Deutschen gewechselt. Weil mir damals ständig Leute gesagt haben, dass es purer Cringe ist, wenn Musiker*innen auf Deutsch texten. Ich mache vieles nur aus Trotz, hier war es vermutlich sogar Trotz mir selbst gegenüber. Denn eigentlich wollte ich ja nur cool sein und coole englischsprachige Musik machen, zu der man tanzen kann – nicht so lyrische Kunstmusik auf Deutsch! [lacht]
Da fällt mir noch ein Grund für meinen Wechsel zur deutschen Sprache ein: Nils Koppruch ist musikalisch mein absolutes Vorbild. Er ist das Ideal, zu dem ich mich als Songwriter hinbewegen möchte. Sein Tod hat damals einerseits dazu geführt, dass ich mich noch mal intensiver mit seiner Musik auseinandergesetzt habe, und andererseits, dass ich es auch mit deutschen Texten versuchen wollte.
Wir haben über das Spiel mit Klischees gesprochen: Der Song „Fick das System“ nutzt einen sehr schlichten linken Slogan, stellt ihm dann aber die komplizierte Realität gegenüber, dass wir gut funktionierende Rädchen in diesem System sind. Du kennst meine Skepsis gegenüber Musik mit politischen Texten: Ist der Song auch als Kritik an diesem sloganhaften Umgang mit Politik in Lyrics zu verstehen? Oder eher Kritik an dem Sich-Einfügen-ins-System?
Matthias Hartwig: Mir geht es in dem Song hauptsächlich um Verständnis dafür, dass man sich diesem Slogan bzw. dem aktiven Kampf gegen das System nicht anschließen will oder kann, weil es einige Voraussetzungen braucht, um das für sich realisieren und dann verfolgen zu können.
Ich wollte einen punkigen Protestsong schreiben, der nicht zu unterkomplex daherkommt. Es ist weniger eine Kritik an dem Slogan als an Menschen, die den Slogan so eng interpretieren, dass sie anderen Menschen, die nicht mit ihnen am selben Strang ziehen, unsolidarisches Verhalten vorwerfen. Trotzdem kommt der Song ja auch zu dem Schluss, dass es wichtigere Dinge gibt, als abends auf dem Sofa zu versacken, auch wenn man wirklich nicht mehr kann.
Übrigens ist das vielleicht mein einziger narrativer Song, und tatsächlich steckt da auch meine Geschichte ein bisschen mit drin, weil ich früher mal in der Frühschicht in einer Großküche gearbeitet habe – zusammen mit anderen Linken, auch autonomen Antifa-Leuten. Aber wir sind halt um 3:30 Uhr aufgestanden, wir hatten kein Bock auf irgendwelche politischen Aktivitäten. Wir waren fertig, das war einfach scheiße.
Außerdem hat mich ein Notizbuch inspiriert, das ich mal am Kotti in einem Mülleimer entdeckt habe und mir aus irgendeinem Grund angesehen habe. Das war das Tagebuch eines Teenagers aus dem Berliner Umland. Und irgendwann macht der in diesem Tagebuch ein Praktikum, und da kommt der Satz her: „Ich habe eine Woche gearbeitet, von mir aus kann die Revolution jetzt bitte kommen.“ [lacht]
Dass er schon nach den ersten Tagen der ersten Arbeitserfahrung zu dieser Erkenntnis kam, fand ich so stark. Zumal ich damals eben in der Großküche gearbeitet und diesen Satz sofort gefühlt habe. Für mich war es ein unverfälschter Ausdruck eines Gefühls, an das wir uns alle gewöhnt haben: Arbeit nervt halt. Und dieser Teenager denkt sich so: Wollt ihr mich verarschen? Das soll ich den ganzen Tag machen?
Du hast aber hoffentlich nicht alle Texte des Albums aus diesem Tagebuch geklaut?
Matthias Hartwig: Es war leider nicht alles hitverdächtig. [lacht] Aber diesen einen Satz musste ich, leicht abgewandelt, einfach übernehmen.
Mich hat der Song auch an „2. Mai“ von Grim104 erinnert, der auch von Revolte gegen das System handelt, mit dem man sich zugleich arrangiert hat: „Doch nach jedem 1. Mai, an dem ich Steine auf die Schweine warf/ Kam ein 2. Mai – geil, Kindergeld vom Schweinestaat.“
Matthias Hartwig: Aber Grim ist ein zynischer Beobachter, womit ich mich zwar grundsätzlich identifizieren kann, bei diesem Song war es mir aber wichtig, am Schluss einen Refrain zu machen, der diese Kritik und die Widersprüche ein wenig negiert. Ich hatte kein Bock auf eine zynische oder rein defätistische Botschaft, denn am Ende des Tages glaube ich an den Slogan.
Allgemeiner zum Schreibprozess: Es gibt den Spruch, dass jede Band für ihr Debütalbum ein Leben lang Zeit hat, und ihr habt euch tatsächlich Zeit gelassen und erst mal nur Singles veröffentlicht. Wie alt sind die ältesten Songs?
Matthias Hartwig: Der älteste ist zehn Jahre alt.
Welcher ist das?
Matthias Hartwig: „Walgesang“. Das war mein erster deutscher Text.
Ihr habt einige der Songs in einer früheren Version bereits auf Spotify veröffentlicht. Haben sich die Songs über die Jahre stark verändert?
Matthias Hartwig: Klar, die Besetzung ist auch eine andere. Als ich „Walgesang“ geschrieben habe, war ich alleine. Dann habe ich schnell Daniel mit an Bord geholt, später kam Joshi als Bassist dazu. Und mit Cullen, dem Schlagzeuger, spielen wir überhaupt erst seit 2019 zusammen – also kurz vor Corona.
Die Singles haben wir gemacht, weil Corona kam, und wir ansonsten nicht viel machen konnten. Die sind alle zuhause aufgenommen. Mehr oder weniger gut. Und mehr oder weniger befriedigend. Das Album war dann die Chance, alles mal vernünftig zu machen.
Schreibst du die Songs im ersten Schritt alleine und bringst sie dann zu deinen drei Kollegen für die Arrangements?
Matthias Hartwig: Bisher ja. Wir jammen auch und könnten ein ganzes Album mit so Progrock-Jams füllen, gar keine Frage. Aber damit es ein Song wird, muss ich den erst mal für mich schreiben. Ich muss relativ genau wissen, in welche Richtung es gehen soll, bevor ich ihn zur Band bringe. In vielen Fällen arrangiere ich die Songs mit Daniel vor, und dann teilen wir sie mit der Band.
Ein Songtext ist aber von Daniel, „Au revoir“. Aber meistens kommen Text und das erste Arrangement von mir.
Apropos Schreibprozess: Wie sehr hasst dich die Band für das 13-Achtel-Riff in „Zweifel“?
Matthias Hartwig: Ha! [lacht] Das ist nicht das Schlimmste, was ich dieser Band angetan habe. Aber Joshi, unser Bassist, hat mich schon sehr gehasst. Unseren Schlagzeuger Cullen kann man damit nicht schocken, der freut sich eher über die Challenge. Für Daniel war es auch gemein, der sich dazu eine Begleitung überlegen musste. Und der Takt ist ja nicht nur ungerade, es gibt auch Betonungsverschiebungen.
Ich sage dann immer: Das darf man nicht zählen, das muss man fühlen. [lacht]
Super hilfreich…
Matthias Hartwig: Für mich ist der Rhythmus aber immer das zentrale Element beim Schreiben, übrigens auch bei den Texten. Natürlich gibt es da auch Sachen, die ich sagen will, aber 90 Prozent des Textes kommt erst mal über den Rhythmus. Oft ist es ein rhythmisches Motiv, das im Zentrum steht.
Ich behaupte einfach mal, dass man „Zweifel“ auch hören und dabei ignorieren kann, dass es ein 13-Achteltakt ist, dass es diesen Wechsel zwischen sechs und sieben Schlägen gibt. Wenn man nicht mitzählt, kommt man da nicht drauf. Auch bei „Einbildung“, der ist ja auch komisch und wechselt mittendrin.
Mir ist wichtig, dass man sich als Nerd über die Komplexität freuen kann, aber dass diese Komplexität nie im Weg steht, wenn man den Song einfach hören und den Groove genießen möchte. Deshalb mag ich komplizierten Progrock oder Mathrock nicht, der dich mit seiner Komplexität anspringt. Wo du von Anfang an weißt: Das kriege ich eh nie gezählt. Ich will es lieber verstecken, dass die Songs komplexer sind, als man vielleicht denkt.
Was bedeutet euch ein Album im Zeitalter der Playlist? Was bedeutet es dir persönlich, was aus Bandsicht – also aus aufmerksamkeitsökonomischer und ökonomischer Sicht?
Matthias Hartwig: Ein Album ist ja erst mal eine Playlist mit Songs von uns, die die Band repräsentieren oder von denen wir denken, dass sie besonders gut gelungen sind. Das finde ich schon wichtig, sagen zu können: Das sind wir! Gerade bei einem Debüt.
Der Prozess hat uns als Band auch weitergebracht. Gemeinsam auf ein Album hin zu proben, sich über Dinge zu streiten, sich auf eine gemeinsame Identität zu einigen. Und in den anstrengenden Momenten auch ein Ziel zu haben, damit man sich erinnern kann: Ah, deshalb tue ich mir das an.
Das ist auch ein Aspekt, der mir bei der ganzen Diskussion, warum man sich in Zeiten von Spotify als Band überhaupt noch ein Album antut, viel zur selten zur Sprache kommt: Dass der Prozess, ein Album aufzunehmen, für eine Band als Gruppe wahnsinnig wichtig ist.
Ob das jetzt ökonomisch klug ist, ist dann beinahe zweitrangig. Wir sind ja sowieso kommerziell irrelevant genug, dass wir uns darum nicht zu kümmern brauchen. Deshalb können wir auch ein instrumentales Saxofon-Intro vor den eh schon scheißlangen ersten Song packen, wenn wir das künstlerisch gut finden.
Du hast den Opener angesprochen: Ihr schleicht euch mit „Welle“ ganz langsam an die Hörer*innen heran. Warum habt ihr euch für dieses lange Crescendo als Start entschieden und den längsten Song mit acht Minuten an den Anfang gestellt?
Matthias Hartwig: Wir hatten viele Diskussionen darüber, noch mehr allerdings darüber, ob als zweiter Song dann wirklich „Fick das System“ folgen soll. Für mich ist „Welle“ vielleicht der wichtigste Song auf dem Album. Live ist es meist der letzte, den wir spielen, mit diesem ewigen Crescendo am Ende passt das gut. Mir war es wichtig, dass man zumindest diesen einen Song hört, weil da fast alles drinsteckt, textlich, musikalisch, im Sounddesign, was Ahabs Linkes Bein ausmacht. Wenn man das Album anfängt und dieser Song gefällt einem nicht, dann muss man das Album vielleicht gar nicht zu Ende hören. [lacht]
Eine sehr nutzer*innenorientierte Denkweise! [lacht]
Matthias Hartwig: Genau.
Du ahnst, dass ich dir diese Frage stellen muss: Wo bleiben die Trap-HiHats?
Matthias Hartwig: Dieser Wasserflaschen-Break in der Mitte von „Zweifel“…
… war dir der schon zu trappig? [lacht]
Matthias Hartwig: Nein, aber das ist unsere versteckte Referenz an die Trap-HiHat.
Ernsthafter, aber immer noch ein wenig ketzerisch: Man hört im Sound und der Produktion nicht, dass es Musik aus dem Jahr 2023 ist – warum eigentlich?
Matthias Hartwig: Naja, das hängt damit zusammen, dass wir alle Instrumente spielen und vom Live-Kontext kommen. Wir haben ja viele Konzerte gespielt vor diesem Album. Und in gewisser Weise ist das Album der Versuch, die Live-Erfahrung zu bannen. Natürlich nicht nur, aber auch.
Ich habe keine Berührungsängste davor, mit dem Sound herumzuspielen, aber mein Skillset als Produzent ist in dieser Hinsicht begrenzt. Ich habe bei einigen Songs mit dem Sound experimentiert, aber es klang am Ende zu gewollt. Zugleich bin ich auch ein Freund davon, sich einzuschränken, um kreativ zu sein. So ein analoger Synthesizer ermöglicht dir so viele Sounds, dass es mir zu viel wird, mich da einzufuchsen. Eine Gitarre ist am Ende ein sehr simples Ding, mit dem man aber auch komplizierte Dinge machen kann.
Du hast eben gesagt, dass ihr kommerziell irrelevant genug seid, dass ihr nicht strategisch denken müsst. Gleichzeitig veröffentlicht ihr jetzt ein Album auf Vinyl, spielt ein Releasekonzert und bewerbt das alles in den Sozialen Medien. Insofern ist Ahabs Linkes Bein mehr als ein Hobby, oder?
Matthias Hartwig: Selbstverständlich. Es gibt einen starken intrinsischen Drang, Musik zu machen. Gleichzeitig brauchst du immer Erfolge, um weiterzumachen. Ich habe jetzt ein Kind, habe einen Job, da muss ich auch vor mir rechtfertigen können, dass ich in diese Sache Zeit und Energie stecke. Da spielen wirtschaftliche Erwägungen leider eine große Rolle. Mein Wunsch war immer, dass Musikmachen sich selbst trägt, damit ich darüber nicht zu sehr nachdenken muss. Das ist bisher der Fall, es ist sogar so, dass die Band ein wenig Profit abwirft, den wir in Sachen wie das Album stecken können.
Gleichzeitig steckt in meiner Musik der egomanische Wunsch, gehört zu werden. Aus irgendeinem Grund bin ich der Meinung, dass die Sachen, die ich mir ausdenke, von anderen gehört werden sollten. Das ist ein völlig behämmerter Gedanke, aber er ist nun mal da, sonst würde ich das ja nicht machen. Und wenn dieser Gedanke dann von anderen bestätigt wird, die unsere Musik hören und mögen, ist das etwas, wofür ich sehr dankbar bin. Und das mir sehr viel gibt, auch für meine Identität. Ich möchte immer einen Grund haben, eine Gitarre in die Hand zu nehmen und meine Gefühle in einen Song zu packen. Und wenn dieser Song dann gehört wird, ich ihn mit anderen teilen kann, denen er vielleicht etwas bedeutet, er nicht mehr nur mir gehört, fühlt es sich auch weniger egomanisch an.
Welche Erwartungen oder auch Hoffnungen hast du im Zusammenhang mit dem Albumrelease im September?
Matthias Hartwig: Egal, was ich jetzt sage, das wird mir auf die Füße fallen. [lacht] Ich wünsche mir, dass das Releasekonzert uns das Gefühl gibt, dass es keine Scheißidee war, so viel in diese Sache zu stecken. Und dass es der Startschuss dafür wird, dass wir als Band weitermachen und die Sache vorantreiben können.
Ich hänge an Ahabs Linkes Bein, ich will, dass diese Sache weitergeht. Daniel und ich wohnen in Berlin, die anderen beiden in Münster, das macht es manchmal sehr schwer. Deshalb wünsche ich mir, dass das Album und das Konzert uns genug Momente bescheren, damit wir alle vier sagen: Ah ja, deshalb machen wir das. Und deshalb machen wir das auch weiter.
Persönlich möchte ich, dass das immer Sinn für mich macht, dass ich mir nie die Frage stelle, warum ich mir das antue. Das ist ne blöde Frage. Das sagt man zwar als Gag immer wieder, aber in Wahrheit ist das eine total blöde Frage, warum du die eine Sache, die dir Freude bereitet, eigentlich machst, weil sie aus ökonomischer Perspektive eine komplett dumme Idee ist. Damit kannst du dich ja auch identifizieren, diesen Gedanken kennen wir alle. Aber ich will einfach Ruhe vor dieser fiesen, Seelen zerstörenden Frage haben.
Am 1. September veröffentlichen Ahabs Linkes Bein ihr Debütalbum „Drohgebärde“ und spielen am 2. September ein Releasekonzert im Badehaus in Berlin (Support: Mone). Hier geht’s zum Vorverkauf.
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