Der Literaturwissenschaftler Kai Köhler hat ein Buch über das Politische der klassischen Musik geschrieben. In „Klassik in den Kämpfen ihrer Zeit“ treibt ihn die Frage um, ob es politische Musik gibt – also genuin politische Musik, die nicht erst durch Texte, programmatische Erklärungen oder Kompositionsanlässe politisiert wird. Er widmet sich darin Komponisten wie Beethoven, Wagner, Tschaikowsky, Strauss oder Eisler, im Interview mit Telepolis wird er dann aber mit Pop- und Schlagermusiker*innen wie Queen, Nicole und Blumfeld konfrontiert.
Die spontanen Analysen der Songs dieser Künstler*innen sind wenig ergiebig, einzig bei „The communists have the music“ von They Might Be Giants erkennt Köhler politische Elemente in der Musik, allerdings ist seine Analyse (wie er zugibt) stark vom Titel und Text des Songs beeinflusst:
Die Singstimme ist sehr einfach geführt, im Instrumentalen gibt es harmonisch und rhythmisch viele Verschiebungen. […] Da tragen viele unterschiedliche Linien zu einem gemeinsamen Ganzen bei – die „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ aus dem Manifest der Kommunistischen Partei. (Kai Köhler)
Vernichtend fällt dagegen seine Kritik von Nicoles „Ein bisschen Frieden“ aus. „Einfachste Versatzstücke aus tausend vorhandenen Schlagern“, hört er hier, immerhin: „einigermaßen geschickt arrangiert.“ Sein Fazit:
Jeder politische Inhalt, auch der reaktionärste, zielt in irgendeiner Weise aufs Denken. Dieses Lied zielt in jeder Hinsicht darauf, Bewusstsein auszuschalten. (Kai Köhler)
Erinnert hat mich dieses Urteil an Theodor W. Adornos Kritik der Protestmusik gegen den Vietnamkrieg in einem Fernsehbeitrag:
Ich glaube allerdings, dass Versuche, politischen Protest mit der Popular Music, also mit der Unterhaltungsmusik zusammenzubringen, deshalb zum Scheitern verurteilt sind, weil die ganze Sphäre der Unterhaltungsmusik – auch, wo sie irgendwie modernistisch sich aufputzt – so mit dem Warencharakter, mit dem Amüsement, mit dem Schielen nach dem Konsum, verbunden ist, dass also Versuche, dem eine veränderte Funktion zu geben, ganz äußerlich bleiben. Und ich muss sagen, wenn also dann irgendjemand sich hinstellt und auf eine im Grunde doch schnulzenhafte Musik dann irgendwelche Dinge darüber singt, dass Vietnam nicht zu ertragen sei, dann finde ich, dass gerade dieser Song nicht zu ertragen ist, weil er, indem er das Entsetzliche noch irgendwie konsumierbar macht, schließlich auch daraus noch etwas wie Konsumqualitäten herauspresst. (Theodor W. Adorno)
Tanz der schweren Zeichen
Adorno spricht hier zwei Probleme politischer Popmusik an, einerseits den Warencharakter der Musik, andererseits ihre musikalische Beschaffenheit, das Verhältnis zwischen der Musik und den Songtexten. Schnulzenhaft, eingängig und ganz dem Amüsement verpflichtet sei Popmusik ungeeignet, über Tod und Leid zu sprechen, weil sie das Entsetzliche damit leicht konsumierbar mache: Schwere Zeichen zum Mitschnippen und Mitwippen.
Reicht es dann im Umkehrschluss aus, wenn dieser Widerspruch zwischen Thema und Musik aufgelöst wird? Wenn die Schwere der Zeichen sich in der Schwere der Musik widerspiegelt? Niemand wird etwa dem Sludge- und Noiserock-Quartett Chat Pile aus Oklahoma City vorwerfen, das Thema Obdachlosigkeit in seinem Song „Why“ „schnulzenhaft“ oder leicht konsumierbar vertont zu haben:
Why do people have to live outside
When there are buildings all around us
With heat on and no one inside
(Chat Pile – „Why“)
Wie politisch sind Sounds?
Spannender als die Frage, ob eine gewisse Ästhetik des Musikalischen die sprachlich zum Ausdruck gebrachte Botschaft verstärkt oder schwächt, finde ich aber die Frage, ob das Musikalische selber politische Botschaften vermitteln oder als politische Botschaft verstanden werden kann. Zumindest wundere ich mich immer wieder über musikjournalistische Texte oder Dokumentationen, die die politische Sprengkraft von Popmusik und ihre Bedeutung für Protestbewegungen betonen (ich bin da eher skeptisch), sich dann aber vor allem um die Lyrics dieser Songs drehen und die Musik als schmückendes Beiwerk behandeln. Dass Musiker*innen heute die Sozialen Medien statt ihre Songs für politische Botschaften nutzen, wie es etwa Tobi Müller vor zwei Jahren für die Zeit beobachtet hat, wäre dann ein logischer Schritt.
Auf die Frage nach dem Politischen in der Musik gibt es eine kurze und eine komplizierte Antwort. Die kurze Antwort lautet seit dem Streit um Programmmusik und absolute Musik in der Klassik, dass sich der Sinn von Musik auf ihre Form beschränkt, jeder Sound also ein Zeichen ist, dem kein außermusikalisches Signifikat zugeordnet werden kann. So argumentiert zum Beispiel Helmut Rösing 2004 in seiner Analyse musikalischer Reaktionen auf den elften September:
Daraus folgt, dass das musikalische Produkt selbst, in der herkömmlichen Terminologie die „reine“ Musik, keine konkrete Botschaft enthält, also weder politisch noch männlich oder religiös usw. ist. Es handelt sich hier um ein Regelwerk von Tönen, Klängen und Zusammenklängen, Rhythmen, Motiven, Melodien u.a.m., die ihren Sinn in sich selbst tragen und gemäß den jeweils gültigen Maximen des Musikmachens funktionieren. (Helmut Rösing: „9/11: Wie politisch kann Musik sein?“)
Wer macht die Regeln?
Die komplizierte Antwort steckt ebenfalls in Rösings Zitat. Denn es provoziert die Gegenfrage, wer denn das Regelwerk von Tönen, Rhythmen und Motiven festlegt. Ein Blick in die Musikgeschichte zeigt, dass beispielsweise religiöse oder andere außermusikalische Faktoren Einfluss auf die „gültigen Maximen des Musikmachens“ hatten und dass zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Orten ganz andere (Zusammen-)Klänge und Rhythmen als wohlklingend und musikalisch galten.
Was passiert, wenn Musik gegen dieses Regelwerk verstößt, wenn sie sich ganz bewusst außerhalb dieser gültigen Maximen bewegt? Wenn es eine „westliche Musiktradition“ mit festgelegter Harmonielehre, klar definierten Notenwerten und Taktarten gibt, dann gibt es auch die Möglichkeit, gegen diese Tradition zu verstoßen und so mindestens für eine Irritation zu sorgen. Ähnlich formuliert es Olaf Karnik in seinem Artikel „Polit-Pop und Sound-Politik in der Popgesellschaft“:
Bedeutet „Nicht in eurer Logik leben“ (Blumfeld) nicht auch, dass sich die Stimmen anders anhören, die Töne anders platziert, die gängigen popmusikalischen Ordnungen destrukturiert, die musikalischen Kontexte geöffnet werden müssten? (Olaf Karnik: „Polit-Pop und Sound-Politik in der Popgesellschaft“)
Das funktioniert allerdings nur, wenn man unter politischer Popmusik Musik versteht, die eine Abweichung von geltenden Normen oder dem bürgerlichen Normalzustand propagiert und sich einer bestehenden gesellschaftlichen Daseinsform widersetzt. Für Olaf Karnik liegt das Politische der Popmusik gerade nicht in verbalen Aussagen, sondern tritt hervor „am Text der Musik selbst – also an der Art und Weise der Mitteilung, ihrer Strukturierung und ihrer Form, am Sound“ (ebd.). Im Sound verdichten sich musikalische Signifikanten zu einem Text, der dann als Musik wahrgenommen wird.
Wie rein ist Popmusik?
Schon der oben erwähnte Streit um Programmmusik und absolute Musik verdeutlicht allerdings, dass es durchaus umstritten ist, ob einem musikalischen Zeichen ein Signifikat zugewiesen werden kann, auf das der musikalische Signifikant eindeutig verweist.
Das Besondere der Musik sei nämlich laut Diedrich Diederichsen gerade, „dass man bei ihr ein ästhetisches Objekt auch ganz ohne Signifikate sich vorstellen kann“ (Diedrich Diederichsen: „Über Pop-Musik“), oder das Signifikat zumindest sehr subjektabhängig sei und ganz im Belieben der Rezipient*innen stehe.
Doch gerade für Popmusik gilt das nicht – und so ergibt sich hier eine zweite Möglichkeit, wie das Politische in die Musik gelangen kann. Denn Popmusik ist eine besonders „unreine“ Form der Musik (Diederichsen erkennt in ihr gar eine Negation der absoluten Musik), weil sie untrennbar „mit Bildern, Gesten und Posen des Alltagslebens, des Alltagsverhaltens und performativer Praktiken“ (ebd.) verstrickt ist. Popkulturelle Szenen kommunizieren immer auch über bestimmte Sounds, die – zumindest für die Eingeweihten – auch mit außermusikalischer Bedeutung aufgeladen sind.
Zwar ist diese Verknüpfung zwischen Signifikant und Signifikat subjekt- und zeitabhängig, doch sie stabilisiert sich mit jedem verknüpften Bild, jeder Geste und Pose. Beispielsweise kann man Kendrick Lamars Album „To Pimp A Butterfly“ beinahe nicht rezipieren, ohne nicht zumindest zu wissen, dass „auf dem Album irgendetwas mit Schwarz-Sein“ verhandelt wird, wie Johannes Ismael-Wendt in seiner Analyse des Songs „Wesley’s Theory“ des Albums richtig feststellt (Johannes Ismael-Wendt: „Mehr Theorie. Substanzielles in Kendrick Lamars ‚Wesley’s Theory‘ Skit“).
Vielleicht blitzt bei den Hörer*innen das Bild Kendrick Lamars auf, wie er bei den BET Awards 2015 einen Song des Albums auf dem Dach eines zerstörten Polizeiwagens oder bei den Grammys 2016 ein Medley als Teil einer chain gang performt. Vielleicht erkennen sie den P-Funk-Bass auf „Wesley’s Theory“ und erinnern sich an die politische beziehungsweise afrofuturistische Botschaft dieses Genres. Oder sie haben noch die Aktivist*innen von Black Lives Matter vor Augen, die auf den Straßen lautstark Kendrick Lamars Song „Alright“ skandieren. Oder sie betrachten beim Hören das Artwork. Oder …
Move Your Ass And Your Mind Will Follow
Warum untersuchen Analysen politischer Popmusik dennoch häufig nur die Songtexte? Vermutlich weil sprachlich zum Ausdruck gebrachte Botschaften leichter zu dechiffrieren sind. Die Analyse, ob ein Song „die Töne anders platziert, die gängigen popmusikalischen Ordnungen destrukturiert“ – also gegen die „gültigen Maximen des Musikmachens“ verstößt – oder welche außermusikalischen und politischen Signifikate mit seinem Sound verknüpft sind, ist dagegen äußerst kompliziert und voraussetzungsreich.
Doch ich glaube, dass sich eine solche Analyse lohnen würde. Wer an das politische Potenzial von Popmusik glaubt (again: ich bin da eher skeptisch), sollte untersuchen, wie sie klingt und wie ihr Sound wirkt. Und dann im nächsten Schritt fragen, was dieser Sound mit den Hörer*innen anstellt. Vor dieser Wirkung scheint sich die Gegenseite, gegen die hier anmusiziert wird, viel mehr zu fürchten als vor den politischen Songtexten. So warnte schon 1958 Jimmie Rogers Snow, der seine Karriere als Countrysänger gegen die eines Predigers gegen den sündigen Rock’n’Roll eintauschte, nicht etwa vor den Texten, sondern vor der Musik und ihrer Wirkung auf die jugendlichen Hörer*innen:
I believe with all of my heart that it is a contributing factor to our juvenile delinquency of today. Why I believe that is because I know how it feels when you sing it. I know what it does to you. I know the evil feeling that you feel when you sing it. I know the lost position that you get into in the beat. If you talk to the average teenager of today and you ask them what it is about rock’n’roll music that they like, and the first thing that they’ll say, is the beat, the beat, the beat. (Jimmie Rogers Snow)
Chubby And The Gang eröffnen ihr Album „Speed Kills“ mit dieser Predigt. Ich habe im ersten Newsletter über das Album und die Band geschrieben.
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