Kit Mackintosh hat Stimmen gehört, die ihm die Zukunft gezeigt haben. Diese Stimmen, die dem Musikjournalisten aus Südlondon den Anbruch eines neuen Zeitalters verkündeten, sind keine menschlichen Stimmen. Oder sie sind so stark von einer schleimigen außerirdischen Technologie durchdrungen und entstellt, dass sie anders klingen als alle Sounds, die in der Popmusik der letzten Jahrzehnte zu hören waren. Deshalb haben sie die „erste wirklich neue Musikrichtung des 21. Jahrhunderts“ erschaffen: willkommen in der Epoche der „Vocal Psychedelia“.
Doch es gab auch lautstarke Stimmen „falscher Propheten“, wie Kit Mackintosh sie im Vorwort seines Buches „Neon Screams. How Drill, Trap and Bashment made music new again“ nennt, die die Möglichkeit einer solchen musikalischen Innovation abstritten. „Sie haben dir erzählt, die Zukunft sei vorbei. Sie haben gelogen.“, prangt in Versalien auf einer Doppelseite des Buches. Das Lustige an dieser Provokation ist, dass „Neon Screams“ bei Repeater Books erschienen ist. Der Verlag aus London wurde 2014 von einem der beiden falschen Propheten, nämlich Mark Fisher, gegründet. Der andere, Simon Reynolds, hat wiederum das Vorwort zu „Neon Screams“ geschrieben.
Wann entsteht ein neues Genre?
Kit Mackintosh untersucht in seinem Buch die Entwicklungen in Rap und Dancehall seit der Jahrtausendwende und bewegt sich damit – wie Simon Reynolds bemerkt – geografisch zwischen den Polen, für die Paul Gilroy den Begriff „Black Atlantic“ geprägt hat: zwischen Kingston, London, Brooklyn, Port of Spain, Lagos, Atlanta und Houston. Um seine These von einem neuen Makro-Genre zu beweisen, muss Kit Mackintosh nun einerseits Gemeinsamkeiten über Genres und Kontinente hinweg herausarbeiten und andererseits begründen, warum die vorgestellten Künstler*innen und Songs nicht mehr in Schubladen mit Etiketten wie „Drill“, „Trap“ oder „Bashment“ passen.
Die zweite Frage gibt Mackintosh zu Beginn des Buches an seine Leser*innen weiter. Kann man das, was Jay Z und Future auf DJ Khaleds „I Got The Keys“ veranstalten, beides sinnvoll als „Rap“ labeln? Ist Futures Einsatz seiner Stimme nicht weiter von Jay Zs Sprechgesang entfernt als dieser von Sugarhill Gangs „Rapper’s Delight“ aus dem Jahr 1979?
Und gilt das im Dancehall nicht auch für Rebel Sixx aus Trinidad und Tobago mit seinem synthetischen Falsett und einer Stimme, die laut Mackintosh wie die afrofuturistische Neuinterpretation des indischen Streichinstruments Serangi klingt?
Das Zeitalter der entstellten Stimmen
Damit ist auch klar, was das neue Makro-Genre eint: es sind die mit Auto-Tune (und anderen digitalen Effekten) verfremdeten Stimmen, die bisher unerhörte und damit wirklich futuristische Sounds kreieren. Zwar ist Auto-Tune wahrlich keine neue Technologie und dank Cher oder T-Pain seit Jahrzehnten im Mainstream von Pop und Rap angekommen, doch für Mackintosh loten erst in den letzten zehn Jahren Musiker*innen die kreativen Möglichkeiten des Effekts aus – weshalb er den jamaikanischen Dancehall-Musiker Vybz Kartel als Pionier und Vorreiter dieser Bewegung bezeichnet.
Zwei Klischees über Auto-Tune widerlegen die Songs der „Vocal Psychedelia“: Weder lässt Auto-Tune alle Stimmen gleich klingen und raubt ihnen jede Individualität noch entmenschlicht der Effekt sie und macht sie zu emotionslosen Computerstimmen. Wie Theaterschminke zeichnet der Auto-Tune-Effekt den Stress und die Verkrampfung in Lil Keeds Schreien und Krächzen in Lil Gotits „Runnin Bands (prod. Supahmario x Des Wright)“ mit dicken Strichen beinahe bis zur Parodie nach.
Obwohl im Rap die Rapper*innen und ihre Performance im Zentrum der Wahrnehmung standen und stehen, bildeten sich neue Subgenres meist durch Innovationen im Bereich der Instrumentals – etwa den Einsatz neuer Drumcomputer. Tatsächlich hat sich in den drei Jahrzehnten zwischen der Sugar Hill Gang und 2 Chainz oder Waka Flocka Flame die Art zu Rappen nicht grundsätzlich verändert. Deshalb ist es nicht falsch, wenn Kit Mackintosh Mumble Rap als das erste Genre seit der Geburt des Rap bezeichnet, „das sich fast ausschließlich (oder zumindest in erster Linie) über seine stimmlichen Innovationen und nicht über bestimmte instrumentale Eigenschaften definiert.“
Mensch und Maschine verschmelzen
Auch in anderen popmusikalischen Genres war die Stimme eher selten Innovationstreiberin – im Gegenteil. Sollte Musik futuristisch anmuten, wurden in der Vergangenheit die Sampler, Sequencer und Synthesizer ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die Körper, die diese Maschinen bedienten, verschwanden aus dem Bildausschnitt, um nicht den Muff von „handgemachter Musik“ mit in die schöne neue Zeit zu schleppen. Stimmen, die sich doch irgendwie in diese Maschinenmusik schlichen, trieben als körper- und emotionslose Gaswolken durch die neu entdeckten Galaxien.
Das ändert sich mit der „Vocal Psychedelia“: Hier wird der Mensch durch den Einsatz von Technik nicht zum Roboter oder der „Mensch-Maschine“ von Kraftwerk, stattdessen dringt die Technik als extraterrestrischer Parasit in die Körper ein und verschmilzt mit ihnen. Wie in einem Body-Horror-Film negiert sie das Organische nicht, sondern hebt es hervor: die Sounds blubbern, ziehen sich wie Schleim, man glaubt, jede Bewegung der Stimmlippen im Kehlkopf und das Vibrieren des Gaumenzäpfchens heraushören zu können.
Kit Mackintosh unterteilt die „Zukunftsmusik“ seit den 1970er Jahren daher in grob drei Phasen: In der Ära der „Mythic Machine Music“ suchen Musiker*innen in Genres wie Dub, Cosmic und Free Jazz oder dem Psychedelic Rock nach einem spirituellen Weg in die Zukunft, die natürlich nicht auf der Erde stattfinden wird: „Space Is The Place.“ Es folgt die eher menschenfeindliche Phase der „Metal Machine Music“, die ich oben bereits beschrieben habe und die von Kraftwerk bis Grime in den letzten Jahrzehnten sehr dominant war. Mit der „Vocal Psychedelia“ bricht nun das Zeitalter der „Man Machine Music“ an.
Die Zukunft bleibt problematisch
Nach all den Nachrufen auf die Zukunft der Popmusik, die seit Simon Reynolds „Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann“ erschienen sind, ist es erfrischend, wenn ein junger Musikjournalist mit so viel Enthusiasmus über das Neuartige aktueller Musikströmungen schreibt. Leider hat die Sache einen Haken: Kit Mackintosh schreibt ausschließlich über Männer. Die von ihm beschriebene Zukunft ist nicht nur männlich, sondern häufig hypermaskulin, gewalttätig, misogyn und queerfeindlich.
Deshalb ist Mackintoshs Euphorie nicht immer ansteckend, sondern hat mich an vielen Stellen eher abgestoßen. Etwa wenn er sich freut, wie sehr Auto-Tune die Wut, den Wahnsinn und Blutdurst in Vybz Kartels Stimme betont, ohne zu thematisieren, dass der Musiker aus Kingston 2014 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe wegen zweier Morde verurteilt wurde. Andere Künstler wie der oben erwähnte Rebel Sixx aus Trinidad und Tobago oder der Brooklyn-Drill-Musiker Pop Smoke wurden selbst Opfer von Gewalt, beide wurden im Jahr 2020 erschossen.
Manchmal scheinen eher die Gewalt und Aggression das einende Element der im Buch porträtierten Szenen. So räumt Kit Mackintosh dem UK Drill viel Raum in „Neon Screams“ ein, obwohl die Rapper*innen dieses Genres (mit wenigen Ausnahmen) Auto-Tune ablehnen und sich der „Vocal Psychedelia“ verweigern. Immerhin formuliert Mackintosh hier eine spannende These zum Verhältnis von Vocals und Instrumental, über die ich seit der Lektüre häufig nachdenke: „Weil der Beat von Drill so starr ist, aber der Rest der Arrangements so amorph, tanzt man am Ende zu den Vocals und nicht zum Instrumental; die ganze Achse, auf der Musik normalerweise funktioniert, ist auf den Kopf gestellt.“
Obwohl sich Kit Mackintosh mit der Gegenwart der letzten Jahre auseinandersetzt und sehr junge Szenen vorstellt, sind erschreckend viele Musiker aus „Neon Screams“ nicht mehr am Leben. Wirklich menschenfreundlich scheint das Zeitalter der „Man Machine Music“ also auch nicht zu sein. Die Frage, die ich mir deshalb stelle und die das Buch konsequent ausblendet: Wie zukunftsweisend ist die „erste wirklich neue Musikrichtung des 21. Jahrhunderts“ jenseits rein musikalischer Innovationen, wenn sie mit so viel negativem (und leider gar nicht neuem) Ballast verbunden ist, den es eigentlich zu überwinden gilt?
Kit Mackintosh (2021): „Neon Screams. How Drill, Trap and Bashment made music new again“, Repeater Books
Tortue-Bücherkiste
Ich habe in den letzten Monaten ein paar ältere Buchrezensionen auf Tortue veröffentlicht, aber nicht als Newsletter verschickt. Deshalb folgt hier ein kleiner Überblick über die ersten Bücher in der Tortue-Bücherkiste, die sich in den nächsten Monaten hoffentlich weiter füllen wird:
Stephen Witt – „How Music Got Free: Wie zwei Erfinder, ein Plattenboss und ein Gauner eine ganze Industrie zu Fall brachten“
Es ist eine tolle Geschichte: 1999 entwickelt der 18-jährige Shawn Fanning, der gerade sein Studium an der Northeastern University abgebrochen hat, eine Software namens Napster, schafft damit die erste große Plattform für den illegalen Austausch von mp3-Dateien – und zerstört so die Musikindustrie. Wie die meisten tollen Geschichten entspricht sie nicht der Wahrheit, und es gehört zu den Leistungen des Buches „How Music Got Free“, dass es diesen Mythos zerstört. Obwohl Stephen Witt ein Buch über die Erfindung des mp3-Formats und die digitale Musikpiraterie geschrieben hat, spielen Shawn Fanning und seine Plattform Napster nur eine Nebenrolle. Zum größten Musikpiraten aller Zeiten kürt Witt eine andere Person, deren Geschichte in „How Music Got Free“ zum ersten Mal ausführlich erzählt wird.
Die ganze Rezension findest du hier.
DJ Semtex – „HipHop Raised Me“
Für John Fairbanks war HipHop nie bloß Unterhaltung. Viele Jahre bevor er als DJ Semtex mit Dizzee Rascal auf Tour ging und für BBC Radio 1Xtra viele große Rapper*innen und Produzent*innen interviewte, war HipHop für ihn Flucht aus der schmerzhaften Realität. Von Geburt an litt der DJ aus Manchester an einem Lymphangiom in seinem rechten Arm, weshalb er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend im Krankenhaus verbrachte – bis der Arm nach einer besonders schweren Infektion schließlich amputiert werden musste. Seinen Arm hat er damals verloren, geblieben ist seine Liebe für HipHop. Und für Geschichten wie seine eigene, in denen Tragödien in Erfolge verwandelt werden.
Den ganzen Artikel findest Du hier.
Ahmir „Questlove“ Thompson – „Mo‘ Meta Blues: The World According To Questlove“
Seine Freunde bezeichnen Ahmir „Questlove“ Thompson scherzhaft als Journalisten, der nebenbei auch Musiker ist. Das erzählt der Drummer und Bandleader der HipHop-Crew The Roots in seinem dritten Buch „Something To Food About“, in dem er Gespräche mit Köch*innen über Essen als Kunst und Parallelen zwischen Gastronomie und Musikindustrie führt. Insofern überrascht es nicht, dass man in „Mo‘ Meta Blues“ ebenso viel über die afroamerikanische Musikgeschichte erfährt wie über The Roots. Private Details wie bandinterne Streitereien erwähnt er beiläufig, lieber philosophiert Questlove über die Frage, warum Stevie Wonders Auftritt in „The Cosby Show“ der einflussreichste Moment der HipHop-Geschichte war.
Die ganze Rezension findest Du hier.
Jack Urwin – „Boys don’t cry. Identität, Gefühl und Männlichkeit“
Er glaube nicht, dass „Boys Don’t Cry“ ein besonders gut geschriebenes Buch sei, lässt Jack Urwin den SPIEGEL wissen. Dass er mit 23 Jahren und ohne viel Ahnung von dem Thema einen Buchvertrag bekommen habe, beweise immerhin, wie privilegiert er als weißer Mann sei. Das mag ehrlich und angenehm uneitel wirken, ändert aber nichts an der Tatsache, dass Jack Urwin ein schlecht recherchiertes, uninspiriertes und toxisches Buch über (toxische) Männlichkeit geschrieben hat.
Den kompletten Verriss findest Du hier.
Das war die siebte Ausgabe von Tortue, die vorherigen Ausgaben kannst Du im Archiv des Newsletters nachlesen. Vielen Dank für Deine Zeit. Wenn Dir meine Gedanken zu Musik, Popkultur und dem ganzen Drumherum gefallen haben, abonniere den Newsletter und erzähle Deinen Freund*innen davon. Außerdem freue ich mich über Kommentare und Rückmeldungen – per Mail, auf Mastodon, Twitter oder Instagram.
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