Stephen Witt – „How Music Got Free: Wie zwei Erfinder, ein Plattenboss und ein Gauner eine ganze Industrie zu Fall brachten“
Tortue-Bücherkiste
Es ist eine tolle Geschichte: 1999 entwickelt der 18-jährige Shawn Fanning, der gerade sein Studium an der Northeastern University abgebrochen hat, eine Software namens Napster, schafft damit die erste große Plattform für den illegalen Austausch von mp3-Dateien – und zerstört so die Musikindustrie. Wie die meisten tollen Geschichten entspricht sie nicht der Wahrheit, und es gehört zu den Leistungen des Buches „How Music Got Free“, dass es diesen Mythos zerstört. Obwohl Stephen Witt ein Buch über die Erfindung des mp3-Formats und die digitale Musikpiraterie geschrieben hat, spielen Shawn Fanning und seine Plattform Napster nur eine Nebenrolle. Zum größten Musikpiraten aller Zeiten kürt Witt eine andere Person, deren Geschichte in „How Music Got Free“ zum ersten Mal ausführlich erzählt wird.
Es gibt gute Gründe, am Einfluss von Napster zu zweifeln. Obwohl die breite Öffentlichkeit die Peer-to-Peer-Plattform fleißig nutzt und millionenfach Songs herunterlädt, bleiben die Verkäufe der Musikindustrie zu Beginn des neuen Jahrtausends hoch. „The Next Episode“ von Dr. Dre gehört zu den am häufigsten kopierten Songdateien auf Napster, dennoch wird das dazugehörige Album „2001“ in der ersten Woche nach Veröffentlichung alleine in den USA 516.000 Mal verkauft.
Im Jahr 2000, also zur Hochphase von Napster, geben US-Amerikaner*innen im Durchschnitt mehr als 70 Dollar allein für CDs aus. Ein Jahr später, und damit nur zwei Jahre nach der Entwicklung durch Shawn Fanning, muss Napster seine Server vom Strom nehmen, nachdem 18 Plattenfirmen erfolgreich gegen die Musiktauschbörse geklagt haben. Napster ist schon wieder Geschichte, der Neustart als legaler Bezahldienst im Jahr 2003 bleibt eine Randnotiz.
Doch wenn Napster im Buch von Stephen Witt nur eine Nebenrolle spielt, welche Geschichte erzählt „How Music Got Free“ stattdessen? Genau genommen sind es drei Geschichten, die über drei Hauptfiguren erzählt werden: Da ist zunächst der Mathematiker und Elektrotechniker Karlheinz Brandenburg, der mit seinem Team von Forscher*innen am Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen ein Verfahren zur Audiokompression entwickelt und anschließend gegen die Widerstände der Moving Picture Experts Group und der Musikindustrie für die Einführung und Etablierung der mp3-Kodierung kämpft.
Da ist zweitens der gescheiterte Songwriter Doug Morris aus New York, der stattdessen als Geschäftsmann Karriere macht, zum CEO bei Universal und Sony Music aufsteigt und im Buch stellvertretend für die überforderte Musikindustrie steht. Und da ist drittens Dell Glover, ein einfacher Mitarbeiter eines CD-Presswerks in Kings Mountain, North Carolina, und laut Stephen Witt „der größte Musikpirat aller Zeiten“. Der Mann, „der die Musikindustrie zerstört hat, um sich neue Felgen für sein Auto zu kaufen“.
Dell Glover schmuggelt im Laufe von acht Jahren fast 2000 Alben aus der Werkshalle in North Carolina und stellt diese mit Hilfe der Piratencrew „Rabid Neurosis“ vor der offiziellen Veröffentlichung kostenlos ins Netz. Man schätzt heute, dass Glover die ursprüngliche Quelle für Hunderte Millionen vervielfältigter mp3-Dateien ist. Witt behauptet sogar, dass es zur Hochzeit der Internetpiraterie „kaum jemanden unter 30 [gab], der nicht irgendeinen von Glover ins Internet geschleusten Song auf seinem iPod hatte“.
Stephen Witt inszeniert den Diebstahl der CDs aus der Werkshalle in North Carolina wie einen Heist-Movie, indem er zunächst die vielen Sicherheitsvorkehrungen schildert, die den anschließenden Raub eigentlich unmöglich machen. Und wie Steven Soderbergh hat er mehr Sympathie mit den Gauner*innen als mit den Bestohlenen. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der Autor selbst „Musikpiraterie im großen Stil betrieb“, wie er in der Einleitung seines Buches zugibt.
Aufgrund der szenischen Erzählweise liest sich „How Music Got Free“ eher wie ein Wirtschafts-Thriller und weniger wie ein Sachbuch, obwohl Stephen Witt sehr grundlegend recherchiert hat, viele Zahlen und Daten liefert und kluge Analysen der Musikindustrie einfließen lässt. Auch die technischen und psychoakustischen Hintergründe der mp3-Codierung erklärt er in den Kapiteln über Karlheinz Brandenburg sehr anschaulich.
„How Music Got Free“ bietet nicht nur einen guten Überblick über die Entwicklungen der 90er und 2000er, die die Musikindustrie grundlegend verändert haben, sondern überrascht auch mit bisher unbekannten Details oder interessanten neuen Perspektiven. So erinnert Witt beispielsweise an eine Klage gegen einen frühen Hersteller von mp3-Playern, die die Musikindustrie parallel zur Klage gegen Napster führt – und verliert. Damit büßt die mp3 ihren größten Nachteil gegenüber der CD ein: Sie wird endlich mobil. Außerdem trauen sich nach dem Urteil auch große Hardware-Anbieter wie Apple an die Entwicklung eines mp3-Players, mit den bekannten Folgen. Für Witt steht fest: „Die Musikindustrie hatte die falsche Klage gewonnen.“
Vor allem aber schafft es „How Music Got Free“, die bisher eher gesichtslose Masse der Filesharer*innen genauer zu kategorisieren, die sehr unterschiedlichen Motivationen für die Verletzung von Urheberrechten herauszuarbeiten und bisher unbekannte Schlüsselfiguren wie Dell Glover zu porträtieren. Umso trauriger ist es, dass Stephen Witt eine reine Männergeschichte geschrieben hat, in der Frauen fast gar nicht vorkommen. Auch wenn die Musikindustrie, die technische Wissenschaft und die Szene der Musikpirat*innen männlich dominiert war (und teilweise bis heute ist), ist dies eine einseitige und verfälschte Darstellung. Geschichte wird hier von einer Handvoll genialer, durchtriebener und visionärer Männer geschrieben. Von einem Buch, das bekannte Narrative klug infrage stellt und ungewohnte Perspektiven eröffnet, hätte man sich in dieser Hinsicht mehr erhofft.
Stephen Witt (2015): „How Music Got Free: Wie zwei Erfinder, ein Plattenboss und ein Gauner eine ganze Industrie zu Fall brachten“, Eichborn.