Für John Fairbanks war HipHop nie bloß Unterhaltung. Viele Jahre bevor er als DJ Semtex mit Dizzee Rascal auf Tour ging und für BBC Radio 1Xtra jeden großen Rapper und Produzenten interviewte, war HipHop für ihn Flucht aus der schmerzhaften Realität. Von Geburt an litt der DJ aus Manchester an einem Lymphangiom in seinem rechten Arm, weshalb er einen Großteil seiner Kindheit und Jugend im Krankenhaus verbrachte – bis der Arm nach einer besonders schweren Infektion schließlich amputiert werden musste. Seinen Arm hat er damals verloren, geblieben ist seine Liebe für HipHop. Und für Geschichten wie seine eigene, in denen Tragödien in Erfolge verwandelt werden.
Ursprünglich wollte DJ Semtex gar kein Buch über die Geschichte von HipHop schreiben, sondern lediglich die wichtigen Momente im Leben von Rapper*innen wie Kanye West oder 50 Cent erzählen, die schwere Schicksalsschläge und traumatische Erlebnisse überwinden mussten, diese in ihrer Musik verarbeitet und daraus neue Kraft geschöpft haben. „Tragedy To Triumph“ sollte das Buch heißen und auch Semtex‘ eigenen Weg von der Tragödie zum Trimph enthalten, den er im Vorwort von „HipHop Raised Me“ selbstbewusst zusammenfasst: „Ich bin besser als die meisten DJs, die zwei Arme haben.“
Dass „HipHop Raised Me“ nun doch die gesamte Historie von den frühen 1970ern bis heute auf 448 Seiten nachzeichnet, liegt nicht nur daran, dass beinahe jede*r Rapper*in einen solchen Schicksalsschlag überwinden musste, sondern auch an einer Zeile aus „Can’t Hold Us“ von Macklemore & Ryan Lewis: „But that’s what you get when Wu-Tang raised you.“ Als DJ Semtex diese Zeile hörte, erinnerte er sich daran, wie Public Enemy ihn Ende der 1980er mit den Ideen von Malcom X vertraut machten, die Jungle Brothers mit dem Denken von Martin Luther King. Wie HipHop ihm Aspekte von Rassismus und schwarzer Geschichte näherbrachte, die im Schulunterricht nie thematisiert wurden. Und er sah ein, dass er die gesamte Geschichte erzählen und vom Schüler, der von HipHop aufgezogen wurde, selbst zum Lehrer werden musste.
„Deshalb freut es mich, wenn mir junge Rapfans erzählen, dass mein Buch ihre Quelle ist, um mehr über die Anfänge der Kultur zu lernen“, so DJ Semtex, der seit 2002 jeden Freitag eine Sendung auf BBC Radio 1Xtra moderiert. Trotz der vielen Generationenkonflikte, die HipHop in der Vergangenheit geprägt haben und bis heute prägen, versteht er HipHop vor allem als Gemeinschaft, in der Wissen von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Wie das ablaufen kann, verdeutlicht er an einem Beispiel: „Auf dem Album ‚Nasir‘ von Nas verwendet Kanye West im Song ‚Cops Shot The Kid‘ ein Sample von Slick Rick. Für die junge Generation gehört Nas längst zur alten Schule, weil er in den 90ern berühmt wurde. Nas wiederum verneigt sich mit dem Sample vor einem Rapper, der ihn beeinflusst hat. So bleibt nicht nur das Wissen um die Vergangenheit lebendig, es wird auch der Staffelstab von Generation zu Generation weitergereicht.‘ Und weil dem DJ dieser Aspekt besonders am Herzen liegt, handelt das letzte Kapitel „Rap Privilege“ seines Buches von Veteranen wie Dr. Dre, Lil Wayne und Jay-Z, die ihre Erfahrung und ihren Einfluss nutzen, um junge Rapper groß zu machen.
Doch John Fairbanks beginnt „HipHop Raised Me“ mit einer Figur, die ihm noch mehr am Herzen liegt. „Mit dem DJ hat alles angefangen, deshalb widme ich ihm auch das erste Kapitel und deshalb ziert das Bild eines Plattenspielers den Buchdeckel“, erklärt er. „Gleichzeitig ist er ein guter Einstieg, weil ich nie gerappt, aber alles gemacht habe, was zum Dasein als DJ gehört: Mixtapes, Radio, Tourneen mit Rappern, Shows auf großen Festivals und auf privaten Hauspartys. Deshalb kann ich darüber besonders fundiert schreiben.“
Doch auch wenn die folgenden acht Kapitel manchmal Themen behandeln, in denen DJ Semtex weniger praktische Erfahrungen hat, fällt das nicht weiter ins Gewicht, da er auf mehrere hundert Interviews zurückgreifen und so immer die passenden Expert*innen zu Wort kommen lassen kann. „HipHop Raised Me“ erzählt die Geschichte von HipHop chronologisch, wobei sich jedes Kapitel zusätzlich einem Oberthema widmet – sei es Rassismus und die Debatte um das N-Wort, Beef zwischen Rapper*innen oder das Verhältnis von Rap und Politik.
Das Buch erzählt diese Geschichte nicht nur mit Worten, sondern mit über 1.000 Fotografien und Grafiken, weshalb sich DJ Semtex oft kurz fassen musste: „Ich habe zunächst 95.000 Wörter geschrieben, musste das dann aber auf 48.000 kürzen. Geschrieben habe ich das Buch in sechs Monaten, allerdings hat das Kürzen dann noch mal so lange gedauert.“ Neben wichtigen Plattencovern und ikonischen Fotografien wählte DJ Semtex auch Fotografien, die seine besondere Perspektive auf HipHop unterstreichen – nämlich die Perspektive eines Jugendlichen, der nicht etwa in New York oder Los Angeles, sondern in Manchester mit Rap aufgewachsen ist.
So wurden die abgedruckten Fotografien von De La Soul 1989 in einer engen Seitengasse in London aufgenommen, auf einem Foto von Public Enemy vor dem Apollo Theater in Manchester 1988 erkennt man den jugendlichen John Fairbanks neben Chuck D. „Für meine Altersgenoss*innen in den USA war Rap in den 80ern vermutlich viel selbstverständlicher und alltäglicher“, so der Autor. „Für mich hier in Manchester war er im Gegenteil gerade Flucht aus meinem Alltag. Vielleicht habe ich deshalb bis heute so ein enges Verhältnis zu Rap.“
DJ Semtex (2018): „HipHop Raised Me“, Edition Olms.