Ein letzter Blick zurück: In der 15. Ausgabe von Tortue stelle ich neun Alben und eine EP aus dem Jahr 2024 vor, die bleiben werden. Viel Spaß beim Lesen und Hören!
Zehn weitere Alben aus dem Jahr 2024 habe ich im ersten Teil des Jahresrückblicks vorgestellt.
Able Noise – „High Tide“ (World Of Echo)
Wie zeigt eine Band, die ursprünglich nur live auftreten wollte, dass sie den Wechsel ins Studio erfolgreich vollzogen hat? Indem sie das Tonband auf dem ersten Song ihres Debütalbums zum zentralen Instrument macht. Für „To Appease“ wiederholt die niederländische Gitarristin George Knegtel zu einem primitiven Beat des griechischen Schlagzeugers Alex Andropoulos denselben Akkord. Durch Bremsen und Beschleunigen des Tonbands wird daraus nachträglich eine Akkordfolge. Kurze Zeit später scheint der Song die Stopp-Start-Dynamik der Pixies zu parodieren, indem das Band buchstäblich gestoppt und wieder neu gestartet wird.
Able Noise haben sich an der Kunstakademie in Den Haag kennengelernt – und genau so klingen die zehn Songs von „High Tide“. Obwohl das Duo mit Schlagzeug, Gitarre und Gesang drei klassische Zutaten verwendet, verwandelt es diese in seiner Molekularküche zu luftigen Schäumen, perlenden Kaviarkugeln und anderen ungewöhnlichen Texturen. Bei „Crickets“ imitieren die Gitarren einen Grillenschwarm, in „Providence“ tupft das Schlagzeug mit feinen Strichen ein impressionistisches Gemälde unter den Gesang. Und auch die Gastmusiker*innen auf „High Tide“ folgen diesem experimentellen Ansatz: in „Ceaseless Sun“ stimmen Alex McKenzie auf der Klarinette und Magdalena McLean auf der Geige eine moderne Adaption der Klagegesänge aus griechischen Tragödien an.
Fabiana Palladino – „Fabiana Palladino“ (Paul Institute/XL Recordings)
„Fabiana Palladino“ ist aus der Zeit gefallen. Nichts auf dem Debütalbum der Britin deutet auf das 21. Jahrhundert hin, geschweige denn auf das Jahr 2024. Wir haben 100 Personen gefragt, aus welchem Jahrzehnt das Albumcover stammt. Alle haben die strenge, kühl distanzierte Diva den 1980ern zugeordnet. Müßig zu spekulieren, ob Fabiana Palladino in den 1980ern oder 1990ern wirklich ein Superstar geworden wäre – „Fabiana Palladino“ klingt jedenfalls wie das Werk eines solchen Stars. Der R&B, Soul und Disco-Pop ist „bigger than life“, in langen Studio-Sessions mit teuren Musiker*innen ausgetüftelt und auf Hochglanz poliert (ihr Vater Pino Palladino hat als Session-Bassist für D’Angelo, Erykah Badu und Adele gearbeitet). Über allem thront Fabiana Palladinos Gesang, den sie mit einer kühlen Eleganz vorträgt. Man kann deshalb kaum glauben, dass sie über ihre Verunsicherungen am Anfang und Ende einer Liebe singt. Die zehn Songs, die größtenteils im Engtanz in gemächlichen Bewegungen unter der Discokugel kreisen, beschwören die Ära der großen Pop-Diven wie Janet Jackson, Tina Turner oder Whitney Houston herauf und bringen bei „Shoulda“ Prince und Fleetwood Mac zusammen.
Los Campesinos! – „All Hell“ (Heart Swells)
„Not right to call this old age, but it certainly ain’t youth no more“, sang das Septett aus Cardiff auf seinem letzten Album „Sick Scenes“, das ich damals in der VISIONS rezensiert habe. Heute sind Los Campesinos! sieben Jahre älter und machen emotionalen Indierock für Erwachsene. Erwachsene, die hoffen, dass die Kinder ihrer Freund*innen zu besseren Linken heranwachsen. Und die sich immer noch mit ihren Eltern über die Nutzlosigkeit der Polizei streiten. „All Hell“ macht es den Hörer*innen nicht schwer, die 15 neuen Songs ins Herz zu schließen. Es gibt große Mitsing-Refrains, Doo-Wop-Chöre, zuckrige Streicher und nur kurze, wohldosierte Ausflüge in den Moshpit (Wir sind schließlich nicht mehr die Jüngsten!). „All Hell“ ist eingängig, aber nie anbiedernd. Los Campesinos! bleiben unversöhnlich. Sie singen lieber Todesdrohungen mit Ohrwurm-Garantie als naiv zu fragen: Warum müssen wir uns immer streiten? Und sie versuchen gleichzeitig, im Alter nicht zynisch zu werden, sondern weiter das Schöne in der Welt zu sehen: Liebe, Solidarität, ein blauer Himmel und ein Fußball ohne Länderspielpause und Expected Goals (xG). Die Hölle? Das ist alles andere.
Die Verlierer – „Notausgang“ (Mangel Records)
2024 war ein gutes Jahr, um auf einem Konzert der Verlierer mit geballter Faust „Nichts funktioniert!“ zu brüllen. Am nächsten Tag brummt der Schädel (Danke Negroni!), der Körper hat ein paar neue blaue Flecken (Danke Stahlsäule im Import Export!) und es funktioniert immer noch: nichts. Wellness sieht anders aus, aber gut tut es schon. Das zweite Album der Berliner Punkband liefert den Soundtrack für den Exzess und die schlechte Laune danach. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Katerstimmung wirklich von zu viel Suff und Drogen („Das Gift“, „Adrenalin“) oder einfach vom Blick in die Tagesschau-App herrührt („Notausgang“).
Zwei Jahre nach dem selbstbetitelten Debüt klingen Die Verlierer auf „Notausgang“ etwas weniger wild und chaotisch (im Punk nicht immer eine gute Nachricht, hier aber schon). Häufiger schiebt sich das Präfix „Post“ vor den Punk – zum Beispiel im tollen Titelsong. Dass die Analyse der politischen Lage in Deutschland im selben Song etwas plump ausfällt („Dreht eure Köpfe nach rechts/ Doch da gibt es nichts zu sehen/ Außer Hass und Feindlichkeit/ So werden wir zugrunde gehen“), verzeiht man da. Textlich ist das Quintett aus Mitgliedern der Bands Chuckamuck und Maske aber überzeugender, wenn es dadaistisch den Weg einer Made durch den menschlichen Verdauungstrakt besingt („Made / D.M.A.IP.“). Oder – und das ist wirklich selten im Punk – ehrliche und unkitschige Liebeslieder schreibt: „Ich möchte nur in Sicherheit sein/ Ich möchte nur deine Sicherheit sein.“
Khadija Al Hanafi – „Slime Patrol 2“ (Fada Records)
Als Kind träumte Khadija Al Hanafi davon, für die Nationalmannschaft Tunesiens Fußball zu spielen. Ihre Position und ihr Spielstil sind nicht überliefert, doch vermutlich war sie eine wuselige Fußballerin, die ihre Gegnerinnen mit Übersteigern, Haken und anderen Finten ins Leere grätschen ließ. Zumindest klingt so „Slime Patrol 2“. Im Vergleich zum Vorgänger aus dem Jahr 2020 ist der Sound eleganter und weniger stürmisch und der Footwork-Sound um Jersey Club und andere Einflüsse erweitert. Am deutlichsten wird dies, wenn man den Opener „Flocka 2“ mit dem vier Jahre älteren „Flocka“ vergleicht. Auf beiden Tracks nutzt Khadija Al Hanafi die Adlibs von Waka Flocka Flame. Doch während sie diese auf „Flocka“ zu einem LoFi-Wirbelsturm verquirlt, unterlegt sie sie auf „Flocka 2“ mit einer kitschigen 80er-Funk-Ballade.
Gleichgeblieben ist Al Hanafis Liebe zu Atlanta-Trap und den blubbernden und kieksenden Autotune-Stimmen der „Vocal Psychedelia“. Lil Keeds Stimme klingt schon in normaler Abspielgeschwindigkeit nach Stress und Verkrampfung (so steht es in Tortue #7), für „2TwinDracos“ hetzt die tunesische Produzentin den verstorbenen Rapper in Spitzengeschwindigkeit durch seinen Song „Anybody“. Doch das sind Ausnahmen auf „Slime Patrol 2“. Melancholischer und introvertierter als der Track „Move Like Me“ oder der Closer „Illusions“ mit einem Klavier-Sample aus Leon Thomas‘ „Let The Rain Fall On Me“ hat Footwork nie geklungen.
DIIV – „Frog In Boiling Water“ (Fantasy Records)
In Wirklichkeit hüpft der Frosch aus dem Kochtopf, wenn man das Wasser darin langsam erhitzt. Beim Menschen darf man sich allerdings nicht so sicher sein. Klimakrise? Rechtsruck? Wir sitzen das einfach aus. Den Soundtrack für die letzten Momente vor dem Siedepunkt liefert das Quartett aus Brooklyn mit „Frog In Boiling Water“. Man lauscht dieser Musik wie ein Insekt, das langsam in Harz versinkt. Man ist fasziniert vom goldgelben Schimmer und merkt zu spät, dass der Bernstein hart geworden ist. Denn es steckt viel Schönheit im sanften, aber dennoch kraftvollen Shoegaze von DIIV, in jeder strahlenden Akkordfolge, in jeder fast gehauchten Zeile von Zachary Cole Smith.
Und die Musik verspricht Hoffnung, aber das ist trügerisch. Weil es sich entweder um leere Versprechungen der neoliberalen Selbstoptimierungsindustrie handelt, die DIIV auf ihren Konzerten und in ihren Videos parodieren. Oder weil im Titelsong zwar die Möglichkeit eines Neustarts angedeutet wird, dieser aber mit Bücherverbrennungen beginnt. DIIV wollten mit „Frog In Boiling Water“ ein politisches Shoegaze-Album aufnehmen. Weder bietet diese Art der Musik Raum für scharfsinnige politische Analysen in den Texten noch rüttelt sie die Hörer*innen auf und treibt sie auf die Barrikaden (mehr zu politischer Musik in Tortue #9). Aber sie lässt uns spüren, dass uns der Kapitalismus wie eine gemütliche Gewichtsdecke ganz sanft, aber stetig erdrückt.
Zsela – „Big For You“ (Mexican Summer)
Wie passend, dass sich Zsela Thompson auf dem Cover ihres Debütalbums im Zuschauer*innenraum eines leeren Theaters räkelt. Denn „Big For You“ handelt von den großen Dramen und Emotionen, gleichzeitig lassen die luftigen Arrangements genug Platz auf der Bühne für die Stimme der Musikerin aus Brooklyn. Zsela scheint immer knapp unter ihrer natürlichen Stimmlage zu singen, um die Tiefe und Schwere ihrer Gefühle zu demonstrieren. Denn wer himmelhoch jauchzt, kann auch tief fallen: Zum Beispiel im Song „Fire Excape“, bei dem Zsela im Refrain begleitet von einem dröhnenden Synthie-Akkord hinabstürzt – entweder ins nächste Liebesabenteuer oder in tiefste Trauer.
Doch „Big For You“ ist kein schweres Album. Denn die Arrangements, die zwischen dem Folk von Joan Armatrading und modernem R&B changieren, sind nicht nur luftig, sondern stets beschwingt. Selbst in ruhigen Balladen wie „Lily Of The Nile“ oder „Brand New“ stecken stets ein gewisser Groove oder ein sanfter Funk. Man hört den Songs an, dass Zsela und ihre beiden Produzenten Daniel Aged (Frank Ocean, Kelela) and Gabe Wax (Soccer Mommy) vier Jahre an jedem einzelnen Sound geschraubt haben. Trotz dieser Liebe fürs Detail zeichnet die zehn Songs von „Big For You“ eine emotionale Direktheit aus, die auch schon die EP „Ache Of Victory“ 2020 so besonders machte.
MJ Guider – „Youth And Beauty“ (Modemain)
Ihr könnt die Räucherstäbchen wieder einpacken. Die EP von MJ Guider beginnt zwar mit New-Age-Geflöte, doch nach 30 Sekunden drückt ein Rauschen die Flötenmelodie wie die feuchte Hitze eines tropischen Sommertages zu Boden. Der Industrial-Beat schlurft in Zeitlupe durch „Primavera (Ritmo Joven)“. Schon mit dem zweiten Song kommt die EP „Youth And Beauty“ fast ganz zum Erliegen: „Opaline“ klingt, als würde Melissa Guion aka MJ Guider von der Hitze ermattet in einem Park in ihrer Heimatstadt New Orleans, Louisiana die immergleichen Töne auf der Gitarre wiederholen, während um sie herum die Pflanzen und Insekten von der Sonne knisternd gebraten werden. Und sind nicht erneut von ganz weit weg ein paar Flötentöne wie ein erlösender Windstoß zu hören? Von dem gespenstischen Shoegaze und Post-Punk, mit dem uns MJ Guider 2020 auf „Sour Cherry Bell“ oder – in abstrakterer Form – 2014 auf der EP „Green Plastic“ verzauberte, sind nur noch Bruch- und Versatzstücke übrig. Der Gesang ist auf „Youth And Beauty“ verschwunden. Alles wabert, rauscht und dröhnt wunderschön.
Mannequin Pussy – „I Got Heaven“ (Epitaph)
Mit dem Titelsong zu Beginn des Albums springt Frontfrau Marisa Dabice die Hörer*innen an wie ein Hund, bei dem man hofft, dass er wirklich nur spielen will. Und ja, „I Got Heaven“ ist verspielter als der Vorgänger „Patience“ vor fünf Jahren, auf dem Marisa Dabice ihre Erfahrungen mit einem gewalttätigen Partner zu trotzigen Ich-komme-schon-klar-Hymnen verarbeitete. Jetzt ist Marisa Dabice wieder die „badass“ Frontfrau der ersten beiden Alben, die Spaß am Spiel mit Lust und Begehren hat. Auch musikalisch ist „I Got Heaven“ verspielter als der Vorgänger, das Quartett aus Philadelphia entfernt sich weiter von seinen Punk-Wurzeln. „Nothing Like“ und auch den Closer „Split Me Open“ hätten The Cardigans so ungefähr in ihrer „Gran Turismo“-Phase geschrieben. Für die naiv-liebliche Ballade „I Don’t Know You“ packt Schlagzeugerin Kaleen Reading die Besen aus. Mit seinen Abzählreim-Strophen erinnert der Song an „1234“ von Feist – zumindest bis sich die Dröhn- und Drohkulisse im Hintergrund aufbaut. Wie schon auf dem Vorgänger scheuen Mannequin Pussy weder die großen Pop-Momente noch die kurzen Hardcore-Attacken wie „OK? OK! OK? OK!“, „Of Her“ und „Aching“.
The Body & Dis Fig – „Orchards Of A Futile Heaven“ (Thrill Jockey Records)
The Body loten gerne Extreme aus. Das gilt zunächst für die Grenzen des Metals, dem sich Chip King und Lee Buford – im Herzen immer Punks geblieben – sowieso nie zugehörig fühlten. Das gilt aber auch für die Grenzen des Hörbaren: Ihr Sound bewegt sich vor allem an den äußersten Enden des Spektrums. Der Bass ist mehr spür- als hörbar, Chip Kings schrilles Kreischen geht mehr unter die Haut als ins Ohr. Den Raum zwischen diesen Extremen füllt auf „Orchards Of A Futile Heaven“ die in Berlin lebende Produzentin, Sängerin und DJ Felicia Chen aka Dis Fig mit ihren Stimmen (im Plural). Mal durchschreitet sie diesen Raum mit dem heiligen Ernst eines Mönchchors („Dissent, Shame“), mal schlängelt sie ihre Stimme mit der Eleganz einer Entfesselungskünstlerin durch den zerklüfteten Lärm („Orchards Of A Futile Heaven“). Meist gibt Dis Fig dabei den lieblichen Gegenpart zum Duo aus Providence, Rhode Island, steigert sich im fast zehnminütigen „Coils Of Kaa“ aber in einen besonders widerborstigen Wutanfall.
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