Das Jahr 2016 hat ein Imageproblem. Der Wikipedia-Artikel nennt in seiner Zusammenfassung die Terroranschläge in Brüssel, Nizza und Berlin, das Brexit-Referendum, die Wahl Donald Trumps sowie den Tod berühmter Musiker*innen und Schauspieler*innen als markante Ereignisse. Dennoch ist der britische Comedian James Acaster davon überzeugt, dass 2016 zumindest für Musik das beste Jahr aller Zeiten war. So überzeugt, dass er mit „Perfect Sound Whatever“ ein ganzes Buch über die Musik des Jahres 2016 veröffentlicht hat und in seinem BBC-Podcast „Perfect Sounds“ jede Woche ein neues Album aus diesem Jahr vorstellt.
Ganz zu Beginn des Buches präsentiert Acaster eine Theorie, weshalb 2016 das beste Jahr für Musik aller Zeiten war – nämlich den „To Pimp A Butterfly“-Effekt. Diese Theorie – oder vielmehr dieses Gerücht – besagt, dass Kendrick Lamars Album „To Pimp A Butterfly“, das im März 2015 veröffentlicht wurde, alle Gespräche und die mediale Berichterstattung über Musik so sehr dominierte, dass viele Künstler*innen die Veröffentlichung ihrer Alben um ein Jahr verschoben. „Als würde die Musik von zwei herausragenden Jahren in eines gestopft“, so Acaster.
Allerdings taucht diese Theorie im weiteren Verlauf des Buches nicht mehr auf, weil man sie vielleicht auf die Veröffentlichungen großer Mainstream-Musiker*innen wie „Lemonade“ von Beyoncé, „Anti“ von Rihanna oder „Blonde“ von Frank Ocean anwenden könnte, aber sicher nicht auf die obskure Musik, die James Acaster aus den Untiefen des Bandcamp-Archivs oder den abseitigsten Jahresendlisten hervorgekramt hat. Es ist unwahrscheinlich, dass Surface To Air Missive sein Blockflöten-Indierock-Album „A V“ wegen „To Pimp A Butterfly“ ein Jahr zurückgehalten hat.
Gleiches gilt für „Rattle“, das Debütalbum der beiden Schlagzeugerinnen Katharine Eira Brown und Theresa Wrigley, auf dessen elf Songs ausschließlich Drums und Gesang zu hören sind.
Ein gutes Jahr für Musik, ein beschissenes Jahr für Acaster
Außerdem weiß James Acaster, dass seine Obsession nicht mit irgendwelchen Theorien objektiviert werden kann, sondern ganz persönliche Gründe hat, die ihren Ursprung nicht im Jahr 2016, sondern im Jahr 2017 haben. So leitet er jede Folge seines Podcasts „Perfect Sounds“ mit folgenden Worten ein:
Hier ist James Acaster, Comedian und Musikfan, und 2017 hatte ich einen Zusammenbruch. Ich habe diesen Zusammenbruch verarbeitet, indem ich so viel Musik aus dem Jahr 2016 gehört habe, wie ich nur konnte. Deshalb besitze ich jetzt mehr als 700 Alben, die in diesem Jahr erschienen sind, und bin überzeugt, dass es das beste Musikjahr aller Zeiten ist.
Obwohl der der 36-Jährige aus Kettering, Northamptonshire besessen ist von dem Musikjahr 2016, behandelt sein Buch „Perfect Sound Whatever“ gar nicht das Jahr 2016, sondern erzählt von Acasters Krise im folgenden Jahr und unterbricht diese Erzählung immer wieder mit Musikempfehlungen aus dem Jahr 2016. Diese stehen aber nicht als Fremdkörper zwischen der autobiografischen Erzählung, sondern James Acaster arbeitet geschickt Parallelen zwischen den Themen der Alben und seiner Situation im Jahr 2017 heraus. Und all diese Alben – das 2019 veröffentlichte Buch stellt insgesamt 366 Alben vor – sind eben auch deshalb mit Acasters Krisenjahr verknüpft, weil der Comedian sie erst 2017 entdeckt hat. Die beinahe manische Jagd nach musikalischen Schätzen war seine Art, mit seinen beruflichen und privaten Katastrophen umzugehen oder diese zumindest für den Moment zu vergessen. (Keine Sorge, eine „echte“ Therapie hat er auch gemacht.)
https://www.facebook.com/watch/?v=2567685203539518
Für das Buch hat James Acaster Interviews mit vielen Musiker*innen geführt und dabei noch mehr Parallelen zwischen der Musik aus 2016 und seinen Emotionen erkannt: „Oft kannte ich nicht einmal die Geschichte hinter dem Album, bis ich mit ihnen sprach, und war dann überrascht, in welcher Lage sich die Musiker*innen befanden, als sie die Alben schrieben, und wie viel davon mit meinem eigenen Leben zu tun hat“, so Acaster im Interview mit Record Collector. Und weiter:
Es gab 2017 nichts, was mir passiert wäre, ohne dass ich ein Album gefunden hätte, das im Jahr zuvor veröffentlicht wurde und das in irgendeiner Weise davon handelte. Es war ermutigend und tröstlich zu wissen, dass, was auch immer man in einem Jahr durchmacht, es wahrscheinlich ein Album gibt, das vor kurzem geschrieben wurde, das aus denselben Gefühlen – Schmerz, Freude oder was auch immer – entstanden ist, und dass wir nie allein sind. Es gibt immer Leute da draußen, die unsere Emotionen mitempfinden und besser zusammenfassen können, wie wir uns fühlen, als wir es können.
Einige Interviews mit Musiker*innen wurden auch als Bonus-Episoden des Podcasts veröffentlicht, in den regulären Folgen spricht James Acaster mit einer*einem befreundeten Comedian über ein Album aus „dem besten Musikjahr aller Zeiten“, das Acaster dem Gast vor der Sendung zugeschickt hat. In Wahrheit habe er den Podcast nur ins Leben gerufen, damit seine Freund*innen gezwungen seien, sich seine Musikempfehlungen auch wirklich anzuhören, erzählt Acaster in einer Folge. Jede Folge endet mit der Frage an den Gast, ob er*sie nun überzeugt sei, dass 2016 das beste Jahr für Musik aller Zeiten war – doch in Wahrheit geht es Acaster nicht um missionarische Überzeugungsarbeit.
Zwar freut er sich wie ein Kleinkind, wenn Gäste seine Musikentdeckungen lieben, doch auch wenn das Gegenteil der Fall ist, interessiert er sich für die Gründe dieser Abneigung und das Hörerlebnis des Gegenübers, anstatt es von seiner Meinung überzeugen zu wollen. So entstehen meist sehr unterhaltsame und teilweise sehr lustige Gespräche zwischen schlagfertigen Comedians, die aber dennoch das Thema ihres Gesprächs, also das jeweilige Album, sehr ernst nehmen und diesem gerecht werden wollen.
Von Joana Gomilas Album „Folk Souvenir“, auf dem traditionelle mallorquinische Folkmusik auf Samples und experimentellen Jazz treffen, kann James Acaster seine Kollegin Jen Brister nicht überzeugen.
Ein Metal-Grindcore-Neoklassik-Album eines italienischen Violinisten? Mit „Discordia“, das Nicola Manzan 2016 unter dem Namen Bologna Violenta veröffentlicht hat, löst James Acaster bei Joe Sutherland keine Begeisterung aus.
Eine Hommage an die Bands, die nicht mehr da sind
Bevor James Acaster Comedian wurde, wollte er Musiker werden und spielte Schlagzeug in verschiedenen Bands. Er liebte es, Teil der jungen Musikszene in Kettering und Northampton zu sein und bei gemeinsamen Auftritten anderen Bands wie dem Indiefolk-Duo Luna Sprout oder der Bluespunk-Band TMart & The Raiders zuzuhören und ihre Demo-CDs zu kaufen. Fast allen diesen Bands erging es ähnlich wie James Acasters musikalischen Ambitionen, die meisten lösten sich vor ihrem ersten Debütalbum auf.
Doch die Demos dieser Bands lebten auf James Acasters iPod weiter und 2016 setzte er zusammen mit dem Comedian und Gitarrist Rob Deering (auch er war Gast des Podcasts) diesen Bands ein kleines Denkmal, indem er zehn ihrer Songs als Grunge- und Indie-Versionen unter dem etwas sperrigen Projektnamen Luna Dott Raids The Bee Pigeon veröffentlichte. Somit habe auch er einen kleinen Teil zum besten Musikjahr aller Zeiten beigetragen, schreibt Acaster im Kapitel zu „Luna Dott Raids The Bee Pigeon“.
Acaster hat ein Herz für Bands, die es nicht geschafft haben. Das wird an einer anderen Stelle im Buch und im Podcast deutlich, wenn er das einzige Album „Out Of Sight“ des Trios Falling aus Minneapolis vorstellt. Als Jackson Catton, JJ Monroe und Lars Oslund 2016 ihr Debütalbum veröffentlichen sind sie etwa 18 Jahre alt – und die Band bereits Geschichte. „Out Of Sight“ klingt aber im doppelten Sinne nicht wie das Debüt dreier 18-Jähriger: Zum einen haben Falling schon früh einen sehr eigenständigen Sound gefunden. Zum anderen schleppt sich ihr tonnenschwerer Alternative Rock dermaßen altersmüde durch die neun Songs, dass man höchsten in den wenigen und kurzen Eruptionen die Energie ihrer Adoleszenz zu spüren glaubt.
Zur Ehrenrettung der Jahresbestenlisten
Doch warum begeistert mich dieses seltsame Projekt so sehr? Warum habe ich in den letzten Wochen Buch und Podcast verschlungen, mir zahllose Alben aus dem Jahr 2016 gekauft und viele weitere auf meine Wunschliste bei Bandcamp gepackt?
Das liegt zunächst sicherlich daran, dass ich James Acaster schon mochte, bevor mir bewusst war, dass er auch ein Musiknerd ist. Sein Netflix-Special „Repertoire“, das aus vier miteinander verknüpften Stand-Up-Shows besteht, hat mich 2018 begeistert, als ich von Stand-Up-Comedy – und vor allem weißen, heterosexuellen, edgy Comedians – gelangweilt bis genervt war. Der Nachfolger „Cold Lasagne Hate Myself 1999“ aus dem Jahr 2019 ist sogar noch besser, auch weil sich Acaster darin gleich zu Beginn über seine edgy Kollegen („you brave little cis boys“) auslässt. Und weil er darin über sein Krisenjahr 2017 spricht und so „versehentlich“, wie er selbst sagt, ein wichtiges Special über psychische Gesundheit geschrieben hat.
Auch sein Auftritt bei „Taskmaster“ ist ein Höhepunkt dieser sowieso famosen Fernsehsendung.
Meine Begeisterung hat auch damit zu tun, dass ich einige Spleens und Leidenschaften von James Acaster teile. Ich bin ebenfalls von der Idee der perfekten Playlist und des perfekten Mixtapes besessen, denke vor Partys wochenlang über den perfekten Ablauf und Flow der Songs nach, obwohl ich natürlich weiß, dass das auf der Party niemanden interessiert. (Und ich will auch niemals wissen, wie viele Beschenkte sich meine Mixtapes wirklich angehört haben.)
Apropos Party, natürlich wurde 2016 auch ein Konzeptalbum über eine Hausparty und ihre schrägen Gäste veröffentlicht – Andy Shaufs „The Party“:
Besonders erfreut hat mich an „Perfect Sound Whatever“ aber, dass hier die Bestenlisten am Ende eines Jahres nicht als lästige Pflichtaufgabe, sondern als Ausgangspunkt für eine lange (und bisher nicht abgeschlossene) Entdeckungsreise genutzt wurden. Bei den Musikjournalist*innen, die ich kenne, haben Jahresendlisten eher den Status der Steuererklärung: Sie sind eben einmal im Jahr fällig, ihre Erstellung ist nervig und aufwendig, trotzdem sind sie am Ende immer unvollständig oder fehlerhaft. Vor allem will man nichts mehr damit zu tun haben, wenn man sie endlich fertiggestellt hat, und erst recht nicht wissen, was alle anderen so fabriziert haben. Das spielt eh keine Rolle, weil im Januar schon wieder die nächsten Veröffentlichungen anstehen.
Ein positiver Nebeneffekt von Acasters Obsession ist außerdem, dass er zwangsläufig irgendwann auch auf Musik aus Ländern stößt, die sonst im (englischsprachigen) Musikjournalismus eher selten berücksichtigt werden. Seine Empfehlungen stammen aus Norwegen, Japan, Spanien, Neuseeland, Holland, Kamerun, Australien, China, Argentinien, Griechenland, Israel, Haiti, Pakistan, Frankreich, Dänemark, Italien, Togo, Schweden, Äthiopien, Island, Portugal, Mexiko, Österreich, Singapur, Kanada, Brasilien, Mauretanien, Schweiz, Deutschland, Russland, Südkorea, Kolumbien, Serbien, Chile, Polen, Mongolei, Belgien, Indien, Gambia, Taiwan, Irland, Lettland, Ungarn, Schottland, Wales, England und USA.
Meine eigene Bestenliste für das Jahr 2016 muss ich nach der Lektüre des Buches und dem Hören des Podcasts jedenfalls umschreiben. Zum Beispiel wäre das fantastische Album „kiid“ von Mal Devisa aus Amherst, Massachusetts ganz weiten oben gelandet, wenn ich es schon 2016 entdeckt hätte.
Genau das ist der Grund, weshalb James Acaster dieses Buch geschrieben hat, wie er im letzten Kapitel von „Perfect Sound Whatever“ betont: Damit die Leser*innen neue Musik entdecken, in die sie sich verlieben. Und einen netten Nebeneffekt hat das Projekt auch noch: „Die Tatsache, dass ich ein Buch über all die gekauften Alben geschrieben habe, macht sie steuerlich absetzbar.“
Auf der Seite Buy Music Club habe ich eine Liste mit Hör- und Kaufempfehlungen für das Jahr 2016 erstellt.
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