Welches Geräusch macht eine Snare-Trommel, deren Fell richtig gespannt wurde? Nicht „PCHO“, sondern: „PATSCH!“ Ein gutes, sattes „PATSCH“. Und warum zählen Bands bei Konzerten ihre Songs ein? Damit das Publikum nicht schon tanzt, bevor der Song überhaupt angefangen hat.
Ich weiß diese Dinge, weil ich das schöne Zine „Flennen For Future“ des Berliner Kassetten-Labels Flennen gelesen habe. Wobei die Comics, Collagen und Gedichte des Magazins – zumindest bei mir – mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Wie der parallel erschienene zehnte Sampler des Labels ist das Zine eine bunte Mischung schöner Seltsamkeiten.
Im Jahr 2021, in dem es kaum noch interessante gedruckte Musikmagazine gibt, ist es auf gute Art ziemlich gestrig, ein Magazin in Schere-und-Klebestift-Ästhetik zu veröffentlichen. Mich hat die Lektüre sofort in die Zeit zurückversetzt, als ich bei meinen ersten Expeditionen in Plattenläden die geheimnisvolle Welt der selbstgedruckten Fanzines entdeckte. So fasziniert ich damals von ihrer Optik war, so wenig habe ich als Nicht-Eingeweihter die Texte darin entziffern können. Nachfragen ging auch nicht, schließlich sind Plattenläden meist Orte überheblicher Kennerschaft. Auf Fragen folgt Spott, keine Antwort.
Nicht nur die Form von „Flennen For Future“, auch der Inhalt weckt nostalgische Gefühle. Denn – und das überrascht beim Zine eines Kassetten-Labels kaum – die Kassette als technisch veraltetes Speichermedium und das Mixtape als ebenfalls veraltete Form des Kuratierens von Musik spielen in einigen Beiträgen eine zentrale Rolle.
So erklärt Harald „Sack“ Ziegler, der seit 1982 seine Musik vor allem auf Kassette veröffentlicht, im Interview mit Alexander Günther, welche Bedeutung dieser Tonträger für sein Schaffen hat:
Die Kassette ist für mich das ideale DIY-Medium. Du kannst alles selber machen. Es entstehen kleine Kunstwerke. Daher habe ich meine Kassetten auch immer als Multiple gesehen, also Kunstwerke in limitierten Auflagen.
Auch sein letztes Release ist in einer limitierten Auflage von zehn Exemplaren erschienen, als dritter Teil der Cassingle-Series des Kölner Labels superpolar Taïps. Wie das Kofferwort Cassingle andeutet, handelt es sich bei diesen Veröffentlichungen um Singles auf C5-Kassetten, die für A- und B-Seite jeweils nur 2:30 Minuten Platz bieten. Auf der A-Seite „Ahornschraube“ kommt Harald „Sack“ Zieglers Waldhorn zum Einsatz, über das er ebenfalls im Interview spricht und dessen Klänge er für die Single verfremdet und verrauscht hat.
Kunstwerke in noch kleinerer Auflage stellt Stefan Oehme her. Dem „warrior to defend the future of the tape and mixtape culture“ und seinen Werken sind in „Flennen For Future“ gleich vier Doppelseiten gewidmet. Neben einem Interview sind viele Beispiele seiner liebevoll gestalteten Mixtapes mit Songliste veröffentlicht.
Oehmes Kassetten tragen Titel wie „Beuys Don’t Cry“, „… ohne Zwiebel, mit Schafskäse, Knoblauch und Ananas“ oder „Verkaufen mit Horst Fuchs“. Bei dem letzten Mixtape werden die Songs von The Slits, Amon Düül oder Palais Schaumburg von Mitschnitten aus Horst Fuchs‘ Teleshopping-Sendungen („Horst Fuchs präsentiert das Duletta-Küchensystem“) unterbrochen.
Augenzwinkernd wird Stefan Oehmes Leidenschaft für selbst aufgenommene und gestaltete Mixtapes als heroischer Kampf gegen digitale Musik-Dateien dargestellt. Dabei hat mit der Digitalisierung des Musikkonsums und vor allem mit dem Siegeszug des Streaming-Dienstes Spotify die Verbreitung von selbst erstellten und abspielbaren Wiedergabelisten exponentiell zugenommen. Und sind Mixtapes nicht nur die technische Vorstufe dieser Playlists?
Diese Frage greift der Sammelband „Listen!“ (Spector Books), herausgegeben von Lina Brion und Detlef Diederichsen in der Publikationsreihe „Das Neue Alphabet“ des HKW, auf. Album- und Singlecharts, Jahresendlisten und andere musikjournalistische Ranglisten („Die zehn besten John-Peel-Sessions“), Setlists bei Konzerten oder die Playlisten von Radiosendern und Streaming-Anbietern: Listen waren schon immer ein wichtiges Werkzeug, um Musik nach ökonomischen, ästhetischen oder anderen Maßstäben zu ordnen.
Die fünf Beiträge von Maria Eriksson, Jasmine Guffond, Kristoffer Cornils, Robert Prey und Liz Pelly sowie die kurze Einleitung der beiden Herausgeber*innen untersuchen Kontinuitäten und Brüche zwischen diesen historischen Formen der Liste und stellen Fragen zur Macht der Playlists: Wer oder – im Fall von Algorithmen – was entscheidet, welche Songs auf einer Liste landen? Was passiert mit Künstler*innen, deren Songs nicht playlist-tauglich sind?
Und was bedeutet es, dass Playlists von Streaming-Diensten nicht mehr nur zur Ordnung der Musik, sondern auch zur Einteilung der Hörer*innen in Zielgruppen dienen? Denn während wir Musik hören, horcht uns Spotify permanent aus: Welchen Song haben wir übersprungen, welchen in eine persönliche Playlist übertragen? Welche Playlist hören wir zu welcher Tageszeit, nach welchen Künstler*innen und Begriffen suchen wir?
„Hang the blessed DJ“, forderten The Smiths 1986 in ihrem Song „Panic“. „Because the music that they constantly play/ It says nothing to me about my life.“ Ist es dann nicht eine gute Nachricht, wenn Spotify möglichst viel über mich und mein Leben weiß und mir deshalb immer genau die Musik vorschlägt und -spielt, die ich in diesem Moment hören möchte?
Um eine solche naive Vorstellung der personalisierten Playlists als praktisches und kostenloses Angebot zurechtzurücken, erinnert die Medienwissenschaftlerin Maria Eriksson im Interview mit der Künstlerin und Komponistin Jasmine Guffond daran, dass es sich dabei „um kommerzielle Produkte [handelt], mit denen sich Erkenntnisse über das Hörer*innenverhalten gewinnen und Einfluss auf die Musikauswahl nehmen lässt.“ (S. 13)
Ähnlich argumentiert der Kulturjournalist Kristoffer Cornils, wenn er in seinem Beitrag „Zur Geschichte der Playlist“ über Spotifys personalisierte Wiedergabeliste „Discover Weekly“ festhält, dass sie den Geschmack der Hörer*innen nicht nur abbilden, sondern ihn bilden soll (S. 32). Deshalb sei auch das im Titel enthaltene Entdeckungsversprechen irreführend, weil die Nutzer*innen nicht selbstständig die rund 60 Millionen Songs auf Spotify durchstöbern, sondern sich zurücklehnen und berieseln lassen sollen.
Seit dem curatorial turn im Jahr 2013 hat sich Spotify von einem suchbasierten Interface, das Zugang zu Musik gewährt, zu einem Anbieter von personalisierten Musikempfehlungen gewandelt (vgl. Maria Eriksson, Patrick Vondereau, Rasmus Fleischer, Pelle Snickars, & Anna Johansson: „Spotify Teardown: Inside The Black Box of Streaming Music“). Im schlimmsten Fall, so die Journalistin Liz Pelly, finden sich die Playlisthörer*innen „in einer Feedbackschleife aus Bequemlichkeit und Dauerberieselung“ wieder, „da ihr Geschmack überwacht, neu verpackt und an sie zurückverkauft wird“ ( S. 66).
Nicht nur das Nutzungsverhalten der Hörer*innen verändert sich, auch die Musik passt sich den neuen Regeln der Playlists an (oder verschwindet aus ihnen). Die Neo-Muzak, die dabei entsteht, hat Liz Pelly in einem Artikel für The Baffler „Streambait Pop“ getauft und definiert sie in ihrem Beitrag in „Listen!“ als Musik „zum entspannten Musikhören ohne große Aufmerksamkeit, bei dem die Nutzer*innen der Streamingdienste weniger darüber nachdenken, welches Album oder welche Künstler*innen sie hören wollen und ihre Musik stattdessen nach ihrer tatsächlichen oder ersehnten Gefühlslage und Befindlichkeit auswählen.“ (S. 58)
Bloß nicht auffallen, lautet die Devise dieser Musik. Niemals riskieren, dass ein*e Hörer*in genervt den Song überspringt oder gar ganz abschaltet. Im Gegensatz dazu kann man die Musik des Flennen-Kollektivs und der befreundeten Bands und Labels nach Liz Pelly als eindeutig „nicht playlist-tauglich“ kategorisieren. So liest sich die Beschreibung des neuen unbetitelten Albums von Ostseetraum auf der Bandcamp-Seite des Labels Adagio830 wie eine bewusste Abgrenzung gegenüber dieser Neo-Muzak:
Ostseetraum ist eine kleine Minimal-Wave-Band, die mit Bass, Gitarre, Synthesizern, Drum-Machines und Gesang verworrene und nervige Musik für Dich spielt.
Auch die Sampler des Labels Flennen taugen nicht als Playlists im Spotify-Sinne, weil sie zu viele Brüche in Stil und Stimmung enthalten und so die ganze Aufmerksamkeit der Hörer*innen einfordern. Auf den sanft klackernden und Synthie-Schlieren ziehenden Dreampop „Big Bin Mind“ von Alexander Günthers Soloprojekt Blumes folgt auf „Flennen No. 9“ beispielsweise der schnelle und rumpelnde Garagenpunk-Song „Nightfalls“ von Ex-White.
Zum Mood-Management eignen sich diese Sampler also nicht, sehr wohl aber für Entdeckungsreisen, wie sie Spotifys personalisierte Liste „Discover Weekly“ nur verspricht. Die Flennen-Sampler höre ich immer im lean forward-Modus, suche nach weiteren Songs und Releases der vertretenen Bands und Künstler*innen und stoße so häufig auf weitere interessante (Kassetten-)Labels.
Deshalb folgt zum Abschluss dieses Newsletters eine kleine „Buy Music Club“-Liste mit Songs und Releases aus dem Flennen-Kosmos, die ich mag (auch für Tortue #2 habe ich eine solche Liste angelegt). Die von der Musikerin und DJ Avalon Emerson ins Leben gerufene Webseite versammelt von Nutzer*innen angelegte Listen mit Songs, die sich in zwei entscheidenden Punkten von den Listen der Streaming-Dienste unterscheiden: Sie wurden nicht mit Hilfe von Datenanalysemethoden wie Collaborative Filtering, Computerlinguistik und Maschinen-Hören erstellt. Und sie sollen dazu animieren, die Musik nicht nur zu streamen, sondern auch zu kaufen.
Im Interview mit Pitchfork erklärt Avalon Emerson, warum wir das Kuratieren von Musik nicht den Algorithmen überlassen dürfen und warum Mixtape-Bastler*innen wie Stefan Oehme die besseren Playlists machen:
Wenn man sich zu sehr auf einen Algorithmus verlässt, um Kultur zu filtern und zu verbreiten, dann ist das im besten Fall langweilig. Schlimmstenfalls überlässt man Aufmerksamkeit und Macht denjenigen, die sie bereits haben.
https://buymusic.club/list/wel_producto-tortue-3-samplers-mixtapes-and-playlists
Das war die dritte Ausgabe von Tortue, die vorherigen Ausgaben kannst Du im Archiv des Newsletters nachlesen. Vielen Dank für Deine Zeit. Wenn Dir meine Gedanken zu Musik, Popkultur und dem ganzen Drumherum gefallen haben, abonniere den Newsletter und erzähle Deinen Freund*innen davon. Außerdem freue ich mich über Kommentare und Rückmeldungen – per Mail, auf Twitter oder Instagram.
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