Auch im zweiten Teil des Jahresrückblicks treffen wir regelmäßige Gäste dieses Newsletters, aber auch einige Neuentdeckungen aus dem letzten Jahr. Ohne lange Vorrede: Viel Spaß mit Tortue #12 und den Musikempfehlungen aus dem Jahr 2023!
Zehn weitere Alben und EPs aus dem Jahr 2023 habe ich im ersten Teil des Jahresrückblicks vorgestellt.
Temps – „Party Gator Purgatory“ (Bella Union)
James Acaster spricht in seinem Comedy-Special „Cold Lasagne Hate Myself 1999“ häufig übers Verlassenwerden. Kein Wunder, ist er doch die einzige Person weltweit, die für Mr. Bean sitzengelassen wurde. Auch seinen Weg von der Musik hin zur Comedy beschreibt der 38-Jährige aus Kettering, Northamptonshire so: Erst sei er Schlagzeuger eines Quintetts gewesen, dann eines Quartetts, eines Trios, eines Duos – und nun stehe er allein auf der Bühne. Mit seinem neuen Musikprojekt ist er deshalb auf Nummer sicher gegangen: Temps ist ein 40 Personen starkes Kollektiv.
Eine andere Erklärung, wie es zu diesen „DIY-Gorillaz“ kam: James Acaster hatte kurz vor dem ersten Lockdown für eine verworfene Mockumentary viele Schlagzeug-Spuren eingetrommelt und für sein Buch „Perfect Sound Whatever“ und die Bonusepisoden des BBC-Podcasts „Perfect Sounds“ (siehe Tortue #4) Kontakt mit seinen liebsten Musiker*innen aufgenommen, die aufgrund der Covid-Pandemie viel freie Zeit hatten. Also schickte er ihnen die Schlagzeug-Spuren – mit „herausfordernd ungeraden Taktarten“, wie Shamir auf Twitter schrieb – und entwickelte aus ihren Beiträgen die zehn Songs von „Party Gator Purgatory“ und die fünf der folgenden EP „After Party“.
„Party Gator Purgatory“ ist ein wilder Ritt durch Indierock, Jazz, Glitch-Pop, abstrakten Rap bis zum sakralen Gospel-Finale, bei dem Quelle Chris in sieben der zehn Songs als auktorialer Erzähler zumindest etwas Orientierung gibt. Die Musik von Temps funktioniert wie Acasters Comedy: Schon das Setup der Geschichte ist schräg, dann biegt sie auch noch mehrfach falsch ab, baut mehre Metaebenen ein, und die Punchline kommt erst, wenn man schon nicht mehr damit gerechnet hat.
L’Rain – „I Killed Your Dog“ (Mexican Summer)
Taja Cheek möchte in Texten über ihre Musik nicht mehr die Worte „verkopft“ und „kompliziert“ lesen. Deshalb hat die Multiinstrumentalistin und Kuratorin aus Brooklyn für ihr drittes Album ein Thema und einen Sound gewählt, die eher als naheliegend und ausgelutscht gelten: „I Killed Your Dog“ handelt von der Liebe und imitiert den Dad- und Indierock von Wilco und The Strokes. Nun ist aber die Sache mit der Liebe, dass sie schnell kompliziert wird. Deshalb beginnt das Album mit der Softrock-Trauerrede „Our Funeral“ und mit Tara Cheek am Boden „wie ein zerknülltes Stück Papier.“ Im Titelstück changiert ihre verfremdete Stimme zwischen lustvoller Unterwerfung („I am your dog“) und blutiger Rache („I felt the blood drip from my teeth“) und in der Neosoul-Ballade „Knead Bee“ diskutiert sie mit ihrem jüngeren Ich, bis der Song sich wirbelnd um sich selbst dreht. Damit ist klar: Auch musikalisch bleibt es kompliziert, nur einmal gelingt die Imitation des Indierocks der Nullerjahre („Pet Rock“). Zu gern schweift L’Rain ab, pickt sich Rosinen aus Folk, R&B oder Ambient und verklebt sie zu vielschichtigen Collagen.
Claire Rousay – „Sigh In My Ear“ (Saddle Creek)
Claire Rousay verkauft T-Shirts mit dem Schriftzug „Emo Ambient“. Insofern passt es, dass sie die Seven-Inch „Sigh In My Ear“ auf Saddle Creek veröffentlicht. Das Label aus Omaha, Nebraska war Anfang der Nullerjahre (nicht nur in meiner Welt) das Hypozentrum für emotionale Musik – und emotional meinte vor allem traurig. Trotzdem ist die Zusammenarbeit zwischen Saddle Creek und der Musikerin aus San Antonio, Texas überraschend, steht das Label doch vor allem für leidende Gitarrenmusik. „Sigh In My Ear“ ist tatsächlich Rousays Interpretation einer traurigen Emo-Ballade inklusive Streichern, schrammeliger Gitarre und Helena Delands Gesang – der allerdings dank Auto-Tune meist an einen traurigen Cyborg erinnert. Claire Rousays Musik hat schon viele Transformationen durchlaufen: von frühen Improvisationen am Schlagzeug zu abstrakten Soundcollagen und Musique concrète, zu Experimenten mit melodischen und harmonischen Elementen wie hier auf der B-Seite „Your First Armadillo“ (die an ihr Album „A Softer Focus“ erinnert). Wie auf „Sigh In My Ear“ hat sie noch nie geklungen.
Billy Woods & Kenny Segal – „Maps“ (Backwoodz Studioz)
Wenn Musiker*innen Alben über das Tourleben veröffentlichen, ist Vorsicht geboten. Denn die immergleichen Backstage- und Hotelzimmer sind nicht nur auf Tour, sondern auch auf Albumlänge schnell ermüdend. Anders bei Billy Woods, der die ereignislosen Stunden zwischen den Auftritten für das nutzt, was er am besten kann: assoziative Grübeleien und prägnante Beobachtungen. Die 17 kurzen, wild zwischen Genres und Stimmungen wechselnden Instrumentals von Kenny Segal spiegeln das auf „Maps“ beschriebene Leben: vom Flugzeug in eine unbekannte Stadt gespuckt, verbringt der New Yorker Rapper seine Tage im Jetlag- und Gras-Nebel, geplagt von brodelnder Anspannung und Paranoia oder von Heimweh. Dazwischen kurze Momente, in denen das Rattern im Kopf kurz aufhört, und selbst der zynische Beobachter Woods die Schönheit erkennt: „For a brief, sweet moment, it was nothing in the thought bubble/ From up here the lakes is puddles, the land unfold/ Brown and green, it’s a quiet puzzle.“ Vier Jahre nach dem gemeinsamen Album „Hiding Places“ harmonieren Woods und der Produzent aus Los Angeles erneut perfekt, auch die vielen Gäste wie Quelle Chris, Danny Brown, Aesop Rock, Sam Herring von Future Islands oder Shabaka Hutchings bringen die besondere Beziehung der beiden nicht aus dem Gleichgewicht.
Jpegmafia & Danny Brown – „Scaring The Hoes“ (AWAL)
Den größten Witz hat Jpegmafia im Begleittext zu „Scaring The Hoes“ versteckt: Weil er alle Instrumentals mit einem alten Roland SP-404-Sampler gebaut hat, behauptet er: „So hätten wir in den 90ern geklungen.“ Vor 30 Jahren hätte der hyperaktive Glitch-Hop der 14 Songs einen Zukunftsschock ausgelöst, von dem sich nicht mal Simon Reynolds erholt hätte. „Scaring The Hoes“ ist ganz und gar Gegenwart – die Gegenwart von zwei US-Typen, die zu viel Zeit im Internet verbringen. In einem Browser-Tab läuft ein obskurer Anime, aus einem anderen schreit ein Crypto-Bro und eine Fitness-Influencerin um die Wette, auf TikTok loopt eine Sped-Up-Version von Kelis‘ „Milkshake“, auf YouTube betritt ein Wrestler zur Billig-Fanfare den Ring – aber wo kommt auf einmal das Freejazz-Saxofon her? Solche Beats geben keinen Raum für Introspektion – dafür hat Danny Brown in diesem Jahr „Quaranta“ veröffentlicht. Stattdessen gehen Jpegmafia und Danny Brown mit den Instrumentals in den Nahkampf und rappen dort den Unsinn, den sie nicht mehr auf Twitter posten können. Danke für nichts, Elon!
MC Yallah – „Yallah Beibe“ (Hakuna Kulala)
Es hat auch einen Vorteil, dass ich die Texte von „Yallah Beibe“ nicht verstehe (die in Kenia geborene und in Uganda aufgewachsene MC Yallah rappt auf Luganda, Luo, Kisuaheli und nur selten auf Englisch): Ich kann mich ganz auf die akrobatischen Flows und die futuristischen Instrumentals des Albums konzentrieren. Yallah Gaudencia Mbidde scheint den drei Produzenten Debmaster, der schon ihr Debüt „Kubali“ produziert hat, Scotch Rolex und Chrisman nur drei Vorgaben für die Instrumentals gegeben zu haben: sehr viel Bass, drumherum ein kühles, von Trap- und Industrial-inspiriertes Klanggerüst und insgesamt so viel rhythmische Komplexität, dass weniger talentierte Rapper*innen sich daran die Finger verbrennen würden. Die zwölf Songs von „Yallah Beibe“ beweisen MC Yallahs Wandelbarkeit: Wer sonst könnte auf „Big Bung“ so geschmeidig wie der ugandische Dancehall-Sänger Ratigan klingen und nur wenige Songs später mit Lord Spikeheart von Nairobis Grindcore-Band Duma um die Wette brüllen?
Bodies Of Conceit – „Bodies Of Conceit“ (Verydeeprecords)
Nirgendwo dröhnte es 2023 schöner als auf dem Debütalbum von Bodies Of Conceit. Zwar erkundet das Leipziger Duo vor allem die tiefen Tonfrequenzen, die mehr in den Körper als ins Ohr gehen, dennoch ufern die fünf Tracks auf „Bodies Of Conceit“ nur selten in erdrückenden Lärm aus – dann aber so richtig. In „Cave Dwellings I“ klickert und klackert ein fragiler Beat gegen das Wummern an, auch „Agromania“ spielt mit dem Gegensatz aus glockenartigen Synthie-Sounds und brodelndem Noise. Durch „Cave Dwellings II“ wehen die Sounds eher wie der Wind durch ein verschachteltes Höhlensystem. Und gerade wenn man sich an die langsame Gangart, an die bedächtig an- und abschwellenden Klangstrukturen gewöhnt hat, beenden Dennis Blumenstein und Benedikt Demmer das Album mit einem Four-to-the-floor-Beat in 140 bpm („Vast Array“).
Slowdive – „Everything Is Alive“ (Dead Oceans)
„Maybe there’s a car there/ Driving away from here“, flüstern Rachel Goswell und Neil Halstead in „Kisses“, dem Hit des fünften Albums ihrer Band Slowdive. Vor 30 Jahren hätte sie das Auto in ein neues Leben, ein neues Abenteuer gefahren, zu einer neuen Liebe. Heute hoffen sie, dass es die Geister der Vergangenheit weit wegbringt. So ändern sich die Themen, wenn man wie Slowdive nach 22 Jahren ohne Album noch mal die Shoegaze-Band der Jugend reaktiviert. Nach „Slowdive“ 2017 ist „Everything Is Alive“ nun das zweite Album der zweiten Phase des britischen Quintetts. Doch „Everything Is Alive“ ist kein düsteres Alterswerk, auch wenn es Goswells Mutter und Drummer Simon Scotts Vater gewidmet ist, die beide 2020 starben. Stattdessen strahlen die acht Songs vor Wärme, glitzern voller Hoffnung. Shoegaze ist die Kunst des Dröhnens, doch „Everything Is Alive“ setzt diese Elemente nur sparsam ein. Statt Hall- und Zerr-Sounds aufzutürmen, schäumt die Musik in feinen Bläschen über.
Selvhenter – „Mesmerizer“ (Eget Værelse/Hands In The Dark)
Für eine Band mit zwei Schlagzeugerinnen und einer Posaunistin, die ihr Spiel mit einem Bassverstärker verfremdet, schleichen sich Selvhenter überraschend leichtfüßig an die Hörer*innen heran. Der Opener „Plex“ tänzelt zu einem polyrhythmischen Groove von Jaleh Negari und Anja Jacobsen, darüber funkt Saxofonistin Sonja LaBianca kurze Dub-Echos in den Raum. Doch Selvhenter können auch ganz anders: „Heftig“ ist eine einminütige Lärm-Eruption, „Rundhyl“ stampft mit tonnenschwerem Schritt durch dreieinhalb Minuten Doom-Jazz, unter dem es Posaunistin Maria Bertel gefährlich brodeln lässt. Nach neun Songs über verwinkelte und abwechslungsreiche Wege lässt das dänische Quartett in „Tre Stemmer“ einzelne Bläser- und Percussions-Schwaden an den Hörer*innen vorbeischweben und tippelt dann flinken Schrittes aus dem Bild.
Tarotplane – „Murmuration“ (npm)
PJ Dorsey aus Baltimore, Maryland macht Musik, in der ich regelmäßig verloren gehe. Sobald die hypnotische Flötenmelodie von „Papilionidae“ die EP eröffnet, tauche ich ab in eine kosmische Gaswolke aus verfremdeten Gitarren, Synthesizern und Field Recordings, bis mich im letzten Track „Kappo And Sender“ das Sample einer deutsch-englischen Sprachschule mit der Sprache des Beschwerens, der Anklage und des Leugnens („Don’t blame me!“) wieder zurück in den Alltag holt. Musik, die ich gerne um mich habe, in der ich gerne Zeit verbringe.
Das war die zwölfte Ausgabe von Tortue, die vorherigen Ausgaben kannst Du im Archiv des Newsletters nachlesen. Vielen Dank für Deine Zeit. Wenn Dir meine Gedanken zu Musik, Popkultur und dem ganzen Drumherum gefallen, abonniere den Newsletter und erzähle Deinen Freund*innen davon. Außerdem freue ich mich über Kommentare und Rückmeldungen – per Mail, auf Mastodon, Twitter, Threads, Bluesky oder Instagram.
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