Ein Archiv ist etwas Ähnliches wie ein Tal, das die eigenen Gedanken in veränderter Form zurückwerfen kann. Man flüstert Ahnungen und Gedanken ins Leere und hofft, eine Antwort zu erhalten. Und wenn man schließlich den richtigen Ton getroffen und die richtige Oberfläche gefunden hat, kommt manchmal, nur manchmal, tatsächlich ein Echo zurück, ein echter, klarer Nachhall. (Valeria Luiselli: „Archiv der verlorenen Kinder“)
Wenn über die Archive der Popmusik gesprochen wird, dann meist als Problem. Es gibt einfach zu viel alte Musik, die jedoch nicht in staubigen Kellerräumen davon träumt, eines Tages von Cratedigger*innen entdeckt und wieder hinaus in die Welt geschickt zu werden. Stattdessen sind die Archive alter Töne vor allem dank der Streaming-Anbieter für alle zugängig, ja sogar so allgegenwärtig, dass sie, wenn man Pessimist*innen wie beispielsweise Ted Gioia glaubt, alle Plätze an der Sonne zuwuchern und die Musik der Gegenwart im Schatten der allgemeinen Aufmerksamkeit verkümmern lassen: Alte Musik als Mörderin der neuen.
In den USA machten die 200 beliebtesten neuen Songs im letzten Jahr weniger als 5 Prozent der gesamten Streams aus, der Anteil alter Musik am US-Musikmarkt beträgt bereits 70 Prozent, Tendenz steigend. Auch Investmentfonds und Beteiligungsgesellschaften haben von dieser Entwicklung Wind bekommen und verwandeln die Rechte an Songs von Bob Dylan, Neil Young oder Mick Fleetwood in milliardenschwere Investitions- und Spekulationsobjekte.
Umgekehrt wird der Musik der Gegenwart vorgeworfen, dass sie sich zu freizügig in den Archiven bediene, den alten Klängen nacheifere. Retromanie, lautet das Urteil – oder gar Leichenfledderei und Störung der Totenruhe.
Ich bin aber überzeugt davon, dass es noch einen anderen, produktiven Umgang mit Archiven gibt, so wie Valeria Luiselli ihn oben in ihrem großartigen Buch „Archiv der verlorenen Kinder“ beschreibt. Bei dem es nicht darum geht, alte Ideen zur Zweitverwertung aufzufrischen, sondern neue Töne in das Archiv zu tragen, damit es sie in „veränderter Form zurückwerfen“ kann. Deshalb folgen hier einige Beispiele für diesen Dialog zwischen alt und neu.
PS: Bereits in der zweiten Folge von Tortue ging es um Archive aufgezeichneter Musik, damals aber vor allem um den unheimlichen Effekt dieser Klänge, die gleichzeitig an- und abwesend sind.
Joana Gomila – „Folk Souvenir“
Die Klänge, mit denen Joana Gomila auf dem Album „Folk Souvenir“ in Dialog tritt, dürfte es eigentlich gar nicht in Archiven geben. Denn Volkslieder sollen nicht aufgeschrieben oder aufgezeichnet, sondern als gelebte Praxis von Generation zu Generation weitergegeben werden. Und tatsächlich hat Joana Gomila, geboren in Manacor im Osten Mallorcas, die ersten spanischen Volkslieder als Kind von ihrer Großmutter gelernt, die sie ihr vor dem Schlafengehen vorsang.
Zwischen den neun Songs des Albums hören auch wir die Großmutter singen, denn Joana Gomila hat als Kind ein Archiv mit Aufnahmen ihrer Familie und der mallorquinischen Natur angelegt, das sie nun für „Folk Souvenir“ nutzt. Zudem sind Aufnahmen des berühmten Archivaren Alan Lomax als Samples zu hören, der in den 1950er Jahren sieben Monate durch Spanien reiste und traditionelle Volkslieder und -tänze aufzeichnete. Er tat das vor allem, weil er dem deutschen Nazi Marius Schneider, der nach Spanien geflohen und dort am Consejo Superior de Investigaciones Científicas (CSIC) für Volksmusik zuständig war, und den Alan Lomax 1952 auf einer Konferenz über Volkskunst auf Mallorca kennenlernte, nicht die Deutungshoheit über die spanische Musik überlassen wollte:
Ich hatte eigentlich nicht die Absicht zu bleiben. Ich hatte nur ein paar Rollen Tonband dabei, und ich hatte mich zuvor nicht ausgiebig mit der spanischen Ethnologie beschäftigt. Dies war jedoch meine erste Erfahrung mit einem Nazi, und als ich diesen autoritären Idioten über den Mittagstisch hinweg ansah, versprach ich mir selbst, dass ich die Musik des unterdrückten Landes aufnehmen würde, und wenn es mich den Rest meines Lebens kosten würde. (Alan Lomax)
Joana Gomila hat diese anthropologischen Aufnahmen mallorquinischer Musik studiert, tritt auf „Folk Souvenir“ aber nicht als Traditionalistin auf, die das Alte bewahren oder wieder heraufbeschwören will, sondern interpretiert die Songs gemeinsam mit ihrer Band sehr frei, verändert Melodien und Harmonien, weil sie die Töne nicht als steinerne Relikte alter Zeiten, sondern als lebendige Organismen versteht.
KUF – „Re:Re:Re“
Das Archiv, aus dem KUF für „Re:Re:Re“ schöpfen, ist der Katalog ihres Labels Macro. Damit dreht das Trio die erwartete Reihenfolge zwischen Original und Neuinterpretation um, Schlagzeuger Hendrik Havekost, Bassist Valentin Link und Keyboarder Tom Schneider spielen die elektronischen Tracks von Stefan Goldmann, Raudive oder rRoxymore nach, statt sich von diesen Produzent*innen elektronischer Musik remixen zu lassen.
Zum Glück geht es KUF aber nicht um den Gegensatz zwischen analoger und elektronischer Musik – ganz im Gegenteil: während bei der Originalversion von „Furniture“ das perkussive Geklöppel bei Raudive noch „handgemacht“ klingt und das Saxofon-Solo in seiner Exaltiertheit einen verschwitzten Jazz-Club heraufbeschwört, klingt die Neuinterpretation auf „Re:Re:Re“, als habe sich das Trio dafür die Instrumente der Cantina Band aus Star Wars geborgt.
Gil Scott-Heron – „We’re New Again: A Reimagining by Makaya McCraven“
Wenn ein Archiv nach Valeria Luiselli etwas Ähnliches wie ein Tal ist, dann ist Gill Scott-Herons letztes Album ein Tal mit besonders guten akustischen Eigenschaften, das Klänge besser zurückwirft als die berühmte Echowand des Berchtesgadener Königssees. Schon ein Jahr nach der Veröffentlichung von „I’m New Here“ hat Jamie XX, der Produzent und Perkussionist des britischen Trios The XX, 2011 das gesamte Album unter dem Titel „We’re New Here“ neu interpretiert. Auch bei den Aufnahmen zum Original fühlte sich Gill Scott-Heron wie ein Zulieferer, der nur das Ausgangsmaterial für die Ideen von Produzent Richard Russell, dem Gründer des Labels XL Recordings, lieferte – wie er im Gespräch mit dem New Yorker verriet:
Dies ist Richards Album. Als ich ins Studio kam, spürte ich, dass er das schon lange machen wollte. Und wenn ich in der Lage bin, jemanden etwas tun zu lassen, was er wirklich will, und es nichts ist, was mich verletzen oder mir schaden würde - warum nicht? Alle Träume, in denen du auftauchst, sind nicht deine eigenen. (Gill Scott-Heron)
Zehn Jahre später taucht Scott-Heron im Traum des Schlagzeugers und Produzenten Makaya McCraven auf, der zusammen mit Musiker*innen wie der Harfen-Spielerin Brandee Younger, Gitarrist Jeff Parker oder Bassist Junius Paul Scott-Herons Spoken-Word-Erzählungen nicht nur in neue Jazz-, Soul-, Gospel- und Blues-Gewänder kleidet, sondern sie neu anordnet, collagiert und mit Archivaufnahmen seiner Eltern, der Sängerin Ágnes Zsigmondi und dem Schlagzeuger Stephen McCraven, in andere Kontexte setzt. Ein wunderschönes Album, das seinem Titel „We’re New Again“ gerecht wird und eine Dekade nach der Erstveröffentlichung und neun Jahre nach Gill Scott-Herons Tod etwas wirklich Neues schafft.
Makaya McCraven – „Deciphering the Message“
Ähnlich funktioniert auch das Album „Deciphering the Message“, für das Makaya McCraven Zugang zu den Archiven des legendären Jazz-Labels Blue Note erhielt. Die 13 Songs sind eine Konversation zwischen aktuellen Musiker*innen – erneut waren etwa Gitarrist Jeff Parker und Bassist Junius Paul beteiligt – und legendären Jazz-Virtuos*innen der 1960er Jahre wie Art Blakey, Wayne Shorter oder Horace Silver. Eine Jam-Session, bei der die Grenze zwischen alten und neuen Klängen verwischt und sich historisches Sample und Nachhall gleichberechtigt begegnen.
Kassa Overall – „Shades Of Flu“ & „Shades Of Flu 2“
Vor Makaya McCraven durfte sich schon der legendäre Rap-Produzent Madlib im Archiv des Labels Blue Note austoben, das Ergebnis aus dem Jahr 2003 hört auf den Namen „Shades Of Blue: Madlib Invades Blue Note“. Aus Blue Note wird bei Kassa Overall Flu Note, aus „Shades Of Blue“ wird „Shades Of Flu“. Denn das „Remixtape“ des Schlagzeugers und Produzenten entstand 2020 während der Covid-Pandemie, als Kassa Overall weder live auftreten noch mit anderen Musiker*innen jammen konnte. „Shades of Flu: Healthy Remixes For an Ill Moment“ ist der Versuch, dieses Zusammenspiel unter strengen Lockdown-Regeln zu simulieren. Denn Kassa Overall remixt hier Songs befreundeter bzw. zeitgenössischer Jazz-Musiker*innen (Makaya McCraven ist auch wieder vertreten), spielt oder programmiert dazu Beats, die von BoomBap über Trap bis Footwork reichen, loopt, zerhackt oder beschleunigt das Material, bis Cécile McLorin Salvants Version von Stevie Wonders „Visions“ an den Chipmunk-Soul von Kanye West erinnert.
Die zweite Ausgabe von „Shades Of Flu“ funktioniert 2021 ähnlich, wobei der Untertitel „In These Odd Times“ eine Neuerung andeutet. Dieser spielt nicht nur auf die weltweite Pandemie an, sondern auch auf ungerade Taktarten, die im Jazz nicht untypisch sind und die es Hörer*innen während der 49 Minuten des „Remixtapes“ immer wieder schwer machen, rhythmisch im Takt zu nicken. Außerdem wagt sich der Drummer aus Brooklyn an ein paar Jazz-Klassiker von Pharoah Sanders oder Chick Corea. Auch der Lockdown war offenbar nicht mehr ganz so streng während der Arbeit an „Shades Of Flu 2“, denn auf einigen Songs sind weitere Musiker*innen und bei „I’m A King“ die beiden Rapperinnen Stas THEE Boss von THEESatisfaction und Nappy Nina zu hören.
Dexter & DJ Friction – „Diggin‘ Sonoton: Contemporary Beats & Movements Vol. 1“
Über 690.000 Tracks von 11.185 Komponist*innen bietet der Münchner Musikverlag Sonoton, der 1965 von Gerhard Narholz und Rotheide Narholz gegründet wurde, für die Nutzung in Werbeclips, Podcasts, Film-, Fernseh- oder Radioproduktionen an. Solche Library Music (Produktionsmusik) ist eine beliebte und begehrte Sample-Quelle für Produzent*innen, da sie meist nicht im normalen Musikhandel erhältlich und deshalb rar und exklusiv ist. So hat beispielsweise der oben erwähnte Madlib unter dem Synonym Quasimoto für seinen Track „The Front“ 2013 den Sonoton-Song „Yellow Ballon“ von Mladen Franko verwurschtelt.
Für „Diggin‘ Sonoton: Contemporary Beats & Movements Vol. 1“ stöberten Dexter und DJ Friction durch mehr als 200 Schallplatten im Keller des Sonoton-Hauptquartiers in München, bedienten sich vor allem an Disco-, Funk- und Exotica-Kompositionen der 1970er Jahre und bastelten aus diesem Material jeweils acht Instrumentals. Der Clou des Albums liegt darin, dass „Diggin‘ Sonoton: Contemporary Beats & Movements Vol. 1“ selbst Teil des Sonoton-Katalogs ist, dass also auch die Songs des Albums zukünftig für kommerzielle Produktionen lizenziert werden können.
Zu jedem Song des Katalogs findet man auf der Homepage des Musikverlags auch eine kurze Beschreibung. Beim Scrollen durch das Archiv der Library Music war ich überrascht, weil ich mit eher deskriptiven und informativen Texten gerechnet hatte – diese sich aber wie etwas holprige musikjournalistische Texte lesen. Zwar findet man Infos wie die bpm-Zahl und Tonart des Songs, und bei einigen Tracks ist angeben, dass sie sich als „ruhige Sprachunterlage“ eignen, meist sind die Beipackzettel aber blumiger: Über DJ Frictions „Chili Sin Carne“ erfährt man, dass es ein „skurriler Latin-Spaß mit komödiantischem 808-Drumbeat“ sei, sein Track „The Drug Hits“ wird als „irre Phantasien im Drogenrausch“ beschrieben.
Fid Mella – „Tatas Plottn“
Sehr viel persönlicher ist das Archiv, aus dem sich Fid Mella 2012 für sein erstes Soloalbum bedient – nämlich „Tatas Plottn“, also der Schallplattensammlung seines Vaters. Weil der ein großer Prog-Rock-Fan ist, ziert eine Hommage an King Crimsons Klassiker „In The Court Of The Crimson King“ das Cover des Albums. Und deshalb mangelt es den 29 instrumentalen Tracks des Produzenten aus Südtirol auch nicht an breitbeinigen Gitarrenriffs, dramatischem Georgel und allerlei seltsamen Soundeffekten.
Ich habe außerdem wieder eine Liste auf der Seite Buy Music Club mit den genannten und weiteren passenden Alben erstellt.
Das war die sechste Ausgabe von Tortue, die vorherigen Ausgaben kannst Du im Archiv des Newsletters nachlesen. Vielen Dank für Deine Zeit. Wenn Dir meine Gedanken zu Musik, Popkultur und dem ganzen Drumherum gefallen haben, abonniere den Newsletter und erzähle Deinen Freund*innen davon. Außerdem freue ich mich über Kommentare und Rückmeldungen – per Mail, auf Twitter oder Instagram.
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